: Gute Zahlen, schlechte Zukunft
AUS SCHWEINFURT JÖRG SCHALLENBERG
„Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick.“ Franz Müntefering am3. Mai 2005 auf dem Programmforum der SPD in Berlin
Als es passierte, befielen Robert Atzmüller „regelrechte Mordgelüste“. Sie galten den Leuten, die ihm das antun. Die ihm einfach so, ohne jede Vorwarnung, den Arbeitsplatz unter dem Hintern wegziehen. Atzmüller ist 43 Jahre alt, ein rundum friedlich wirkender Schnauzbartträger und studierter Physiker, auf seinem IBM-Werksausweis steht ein „Dr.“. Vor zehn Jahren, als die Firma noch nicht IBM hieß, hat er hier angefangen als IT-Systembetreuer, sich bald zum Teamleiter hochgearbeitet und sich später im Betriebsrat engagiert. Ein ganz wichtiges Kriterium für seine Einstellung, erinnert sich Atzmüller heute, „war die Standorttreue“. Seine Standorttreue, wohlgemerkt. Die war glücklicherweise ausgeprägt. Atzmüller hatte damals schon eine Frau und zwei Kinder, inzwischen sind es drei, die Familie hat sich bei Schweinfurt ein Haus gebaut. Alles lief bestens. Nur der Standort, dem er immer so treu war – der ist bald nicht mehr da.
Das Ende kündigte sich per E-Mail an. Am 2. März 2005 bestellte die Geschäftsleitung von IBM Business Services (BS) in Schweinfurt Dr. Robert Atzmüller und seine Betriebsratskollegen zu einer Besprechung ein. Kühl erklärte dort ein Abgesandter des Geschäftsführers, die Niederlassung werde zum 30. September geschlossen. 342 Arbeitsplätze würden damit ersatzlos gestrichen werden. „Wir waren alle wie vor den Kopf geschlagen“, erinnert sich der Betriebsratsvorsitzende Roland Strauß, 57, der jetzt gemeinsam mit Atzmüller in seinem Büro im neunten Stock des braunen Büroturms am Rande der Schweinfurter Innenstadt sitzt. Auch gut zwei Monate später kann er nicht wirklich begreifen, was da eigentlich passiert ist.
Sein Tonfall schwankt zwischen Galgenhumor und Fassungslosigkeit, als Strauß von einer Betriebsversammlung erzählt, die, eine Woche bevor die Schließung verkündet wurde, stattfand. Da lobte der – für alle deutschen IBM-BS-Niederlassungen zuständige – Geschäftsführer Johannes Nagel die Schweinfurter Belegschaft noch in höchsten Tönen. Die Arbeitsplätze, versicherte er, seien absolut sicher, solange es nicht zu gravierenden Einbrüchen komme. Allein der Gedanke an diesen Auftritt versetzt Robert Atzmüller wieder in Zorn.
Er zieht einen winzigen USB-Stick aus der Hosentasche, auf dem er einen Bericht des Schweinfurter Tageblattes aus dem vergangenen Frühjahr abgespeichert hat. Auf dem Bildschirm des IBM-Laptops taucht das Gesicht von Johannes Nagel auf, der sich im Artikel hocherfreut zeigt, dass es ihm rund ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt gelungen sei, „den hoch motivierten Kollegen deutlich zu machen, dass der Standort nicht geschwächt, sondern gestärkt werden soll“.
Wie Nagel heute zu diesen Aussagen steht, darüber erhält man bei der Geschäftsführung von IBM BS leider keine Auskunft. Die Erklärung zur Schließung der Schweinfurter Niederlassung ist genau einen Satz lang: „Wir planen diesen Schritt, um den sich ändernden Bedürfnissen unserer Kunden so effizient und wettbewerbsfähig wie möglich Rechnung zu tragen.“ Auf die Nachfragen, was das genau bedeute, ob man die angebliche mangelnde Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit näher erläutern könne, antwortet eine Pressesprecherin der Deutschland-Zentrale lakonisch: „Ich kann ihnen dazu keine weiterführenden Informationen geben.“
Intern wurde allerdings für IBM BS in Deutschland für das abgelaufene Jahr eine so genannte Cross-Profit-Rate von 17,3 Prozent bekannt gegeben – diese Zahl ist zwar wegen verschiedener Abzüge noch nicht mit dem Gewinn vor Steuern gleichzusetzen, zeigt aber, dass das Unternehmen, das in Deutschland rund 3.000 Mitarbeiter beschäftigt, offenbar sehr erfolgreich gearbeitet hat.
Auch in den Geschäftsberichten des Weltkonzerns IBM sucht man vergebens nach den „gravierenden Einbrüchen“, von denen der Geschäftsführer sprach. Im ersten Quartal 2005 verbuchte das Unternehmen 1,4 Milliarden Euro Gewinn, 40 Millionen mehr als im ersten Vierteljahr des Vorjahres. Auch der Umsatz steigerte sich um 3,3 Prozent auf 22,4 Milliarden Euro, die Dienstleistungssparte, zu der IBM BS gehört, gar um 6 Prozent.
Die Analysten der New Yorker Börse allerdings hatten den Anlegern noch größere Hoffnungen gemacht – prompt sanken die Aktienkurse des Unternehmens zu Jahresbeginn. Vorstandschef Samuel J. Palmisano, der sich Aktienbesitzern gegenüber sehr verantwortlich fühlt, reagierte sofort und verkündete „aggressive Maßnahmen“ zur schnelleren Maximierung des Gewinns. So kommt es, dass ein hochprofitables Unternehmen wie IBM allein in diesem Jahr weltweit 13.000 seiner insgesamt 330.000 Mitarbeiter einsparen will. Und wenn man dieser Logik folgt, erscheint es plötzlich gar nicht mehr so absurd, dass die Arbeit der IBM-BS-Niederlassungen in Schweinfurt und in der ebenfalls zur Schließung vorgesehenen Niederlassung Hannover künftig im ungarischen Székesfehérvár und im tschechischen Brünn erledigt werden sollen. Andererseits lassen sich die Mordgelüste, die Robert Atzmüller befielen, auch ganz gut nachvollziehen.
Der Physiker gerät mittlerweile aber eher ins Philosophieren, wenn er darüber nachdenkt, was mit ihm und seinen Kollegen gerade geschieht. Dass sie im Kleinen ein perfektes Beispiel für Franz Münteferings Kapitalismuskritik abgeben, darüber seien sich alle hier einig. Über Geschäftsführer Nagel urteilt Atzmüller nach einigem Nachdenken: „Der tut mir leid. Der hat doch seine Seele verkauft. Wie kann er damit leben, so etwas umsetzen zu müssen? Da stehe ich lieber morgen beim Arbeitsamt und habe meine Seele noch.“
So sitzen Atzmüller, Strauß und ihre Kollegen immer öfter zusammen im tristen Büro und zählen die Tage bis zum Ende. Ein erstes Aufbegehren gegen die Schließung ist verpufft. Sie haben vor der IBM-Zentrale in Stuttgart demonstriert, vor der Zweigstelle in Frankfurt, auf der Cebit in Hannover. Doch ihnen fehlt ein echter Gegner. „In Deutschland hat man gar keinen Ansprechpartner“, sagt Betriebsratschef Strauß und zuckt hilflos die Schultern, „die Direktiven kommen sowieso aus den USA“.
Das war früher anders – damals, bevor IBM die gewinnversprechende Abteilung Datenverarbeitung des alteingesessenen, aber in den 90er-Jahren krisengeschüttelten Schweinfurter Unternehmens FAG Kugelfischer aufkaufte und zum Hightech-Dienstleister ausbaute. Bis heute residiert IBM BS auf dem FAG-Gelände, versteckt zwischen dunklen Backsteinhallen aus Zeiten, als der Kapitalismus noch hausgemacht war und die Angestellten noch wussten, gegen wen sie sich im Streit über Lohnforderungen oder drohende Entlassungen wehren mussten.
Jetzt findet kein Arbeitskampf mehr statt. Angebote des Betriebsrats auf Lohnverzicht oder begrenzten Stellenabbau hat der Konzern ignoriert. Um öffentlichen Ärger zu vermeiden, hat IBM den meisten der 342 Angestellten gut dotierte Abfindungen von bis zu 250.000 Euro angeboten, wenn sie freiwillig das Handtuch werfen. Auch Robert Atzmüller hat einen dieser „Aufhebungsverträge“ unterschrieben. „Was sollte ich denn machen?“, sagt er mit plötzlich lauter werdender Stimme und nestelt fahrig an seinem breit karierten Hemd. Wenn er über seine Zukunft reden soll, wirkt er nicht mehr ruhig und auch nicht mehr zornig, sondern so unsicher wie jemand, in dem langsam die Verzweiflung hochkriecht. „Ich hoffe, dass ich mit der Abfindung das Haus weiter abbezahlen kann“, sagt er schnell, „und wir dann auch mit weniger Gehalt über die Runden kommen.“ Ein Arbeitsplatz, der halbwegs seiner Qualifikation entspricht, existiert allerdings nirgendwo in der Umgebung von Schweinfurt.
Für den standorttreuen Dr. Robert Atzmüller bleiben nur zwei Alternativen: Entweder er sucht sich eine mit großer Sicherheit schlechter dotierte Stelle etwa im rund 350 Kilometer entfernten München – oder er bleibt mit seiner Familie in Schweinfurt und riskiert, über die Arbeitslosigkeit in Hartz IV abzurutschen und erleben zu müssen, „wie wir unser Geld, unser Haus und unsere Altersvorsorge abgeben müssen, bevor wir zum Sozialfall werden“.
Vielleicht sollte Atzmüller seine Abfindung besser in IBM-Aktien investieren: Der Konzern hat für das zweite Halbjahr 2005 höhere Gewinne in Aussicht gestellt. Allein die Einsparungen beim Personal, verkündete ein hochrangiger Manager, würden kurzfristig bereits 500 Millionen Euro einbringen.