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Archiv-Artikel

Kein Tag ohne Terror

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Fünf blutige Attentate mit über 70 Toten an einem Vormittag. Die Bilanz des Schreckens am gestrigen Mittwoch fiel im Irak noch etwas blutiger aus, als es ohnehin in den letzten Tagen der Fall war. In Tikrit, der Heimatstadt Saddam Husseins, raste ein mit Sprengstoff beladenes Auto in einen Markt und tötete mindestens 28 Menschen, überwiegend schiitische Arbeiter, die dort auf Jobsuche waren.

Noch etwas weiter nördlich, in der Nähe von Kirkuk, in der Kleinstadt Howeidscha, sprengte sich ein Attentäter mitten in einer Schlange vor dem örtlichen Rekrutierungsbüro der irakischen Armee in die Luft und nahm 30 Menschen mit in den Tot. In Bagdad gingen an unterschiedlichen Stellen drei Autobomben hoch und töteten noch einmal mindestens 8 Menschen.

Seit der Wahl der neuen Regierung am 28. April, mit deren Amtsantritt eigentlich allenthalben die Hoffnung verbunden war, dass die Anschläge beendet oder doch zumindest weniger werden, weil es ja nun eine demokratisch legitimierte Regierung gibt, sind bei Attentaten bereits über 400 Menschen umgekommen.

Doch das ist nur die eine Seite. Seit fünf Tagen versuchen US-Spezialeinheiten im Westen des Irak nahe der syrischen Grenze in dortigen Dörfern Aufständische aufzuspüren und zu töten. Es soll zu einzelnen heftigen Gefechten gekommen sein, bei denen angeblich 100 Widerständler getötet wurden. Ärzte berichteten gestern Vormittag allerdings auch von getöteten Zivilisten. Angeblich wurde sogar der Gouverneur der Provinz, in der die Kämpfe stattfinden, entführt – seine Entführer fordern die Einstellung der US-Offensive.

Es könnte also durchaus sein, dass die gestrigen Anschläge auch mit der US-Offensive zu tun haben. Ziele der Attentate waren überall Polizeistationen oder solche irakische Zivilisten, die angeblich mit den Sicherheitskräften kooperieren wollen. Allein die Anzahl der Anschläge gestern machte deutlich, dass weder die US-Besatzer noch die irakischen Polizisten oder die neu ausgebildeten Soldaten eine Chance haben, die Attentäter zu stoppen.

Allen Beschwichtigungen aus Washington zum Trotz ist sogar zu befürchten, dass die Intensität der Anschläge noch zunimmt. Nach einem Bericht in der britischen Sunday Times sind die Widerständler aus dem früheren Umfeld Saddam Husseins – unzufriedene Sunniten, die durch den Krieg ihre privilegierten Positionen verloren haben, und fanatische Islamisten um Abu Mussab al-Sarkawi – sogar dabei, sich zusammenzuschließen und gemeinsam einen „Rat zur Befreiung des Irak“ zu bilden.

Genannte Zeitung will einen Führer des Widerstands im Irak getroffen und interviewt haben, der ihnen erzählte, es kämen so viele junge Kämpfer aus Saudi-Arabien und dem Jemen, aber auch aus anderen arabischen Ländern, dass sie Schwierigkeiten hätten, alle einzusetzen. Jeder von ihnen sei zum Tod entschlossen, sie brauchten keine weitere Ausbildung, sondern nur einen Sprenggürtel und ein Attentatsziel.

Obwohl sich die Irak-Anrainerstaaten vor zehn Tagen bei einem Treffen in Istanbul alle verpflichtet haben, ihre Grenzen zum Irak verstärkt zu überwachen und in Syrien danach tatsächlich eine Gruppe Saudis, die angeblich auf dem Weg in den Irak waren, verhaftet wurde, ist der Strom von Dschihadkämpfern in den Irak offenbar nicht zu stoppen.

Nachdem lange Zeit vor allem Schiiten das Ziel von Attentaten waren, machte der Anschlag auf das Hauptquartier der kurdischen KDP in Erbil in der letzten Woche deutlich, dass auch die kurdische Zone alles andere als sicher ist.

Der von der Sunday Times interviewte Commander behauptete, das Attentat in Erbil sei eine konzertierte Aktion mehrerer Gruppen gewesen, gewissermaßen eine Art Pilotprojekt des im Entstehen begriffenen Befreiungsrats. Wenn das zutrifft, kann es im Irak nur noch schlimmer werden.