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Archiv-Artikel

„Elementare Mängel“

taz: Herr Scheer, als einer von zwei SPD-Abgeordneten haben Sie der EU-Verfassung Ihre Zustimmung verweigert. Sind Sie „allzu kleinlich und detailversessen“, wie der Kanzler meint?

Hermann Scheer: Nein, meine Kritik bezieht sich auf elementare Mängel. Einer ist, dass das alleinige Initiativrecht für Gesetze bei der EU-Kommission bleibt und dem Europaparlament vorenthalten wird. Das ist zwar kein neuer Mangel, aber er wirkt sich jetzt noch stärker aus, weil die Zuständigkeiten der EU wachsen.

Es ist also Unsinn, wenn der Kanzler sagt: Wer mehr Demokratie will, muss zustimmen? Dank der neuen Mehrheitsfindung gelte doch das Prinzip „ein Bürger, eine Stimme“.

Ich bestreite nicht, dass es einige Verbesserungen des Entscheidungsverfahrens gibt. Aber sie berühren nicht den Kern. Das Prinzip der gewaltengeteilten Demokratie wird weiter ausgehöhlt. Der zweite Mangel, den ich nicht akzeptieren kann, ist die wirtschaftsdogmatische Schlagseite der Verfassung. Waren-, Kapital- und Dienstleistungsfreiheit werden praktisch auf eine Ebene mit menschlichen Grundrechten gesetzt. Das bedeutet die Dogmatisierung eines wirtschaftlichen Prinzips, die sich auch auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auswirken wird. Statt einen Sozialstaat Europa zu entwickeln, gibt sich Europa eine Verfassung, die zum Teil neoliberaler ist als in den USA.

Hätten Sie sich auch enthalten, wenn es auf Ihr Votum angekommen wäre?

Ja. Ich wünsche mir einen neuen Anlauf für eine andere Verfassung – und zwar mit einer verfassunggebenden Versammlung aus Mitgliedern, die direkt von der Bevölkerung gewählt sind.

INTERVIEWS: LUKAS WALLRAFF