: Großes Ja, kleines Aber
Nach einer Debatte – geführt mit Polemik und Pathos – stimmt der Bundestag der Ratifizierung der EU-Verfassung zu
AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANNund SOLVEIG WRIGHT
Europa, das sind fünfzig polnische Fliesenleger. Die hocken in einer Kölner Wohnung und verderben dem deutschen Handwerk das Geschäft. Unionschefin Angela Merkel ließ es sich vor der gestrigen Bundestagsabstimmung über die EU-Verfassung nicht nehmen, der Regierungskoalition die Problematik der europäischen Dienstleistungsfreiheit in diesem schlichten Bild vorzuhalten. Und SPD-Chef Franz Müntefering ließ es sich nicht nehmen zu behaupten, dass die Polizei gleich morgen in besagter Kölner Wohnung aufräumen werde: „Geben Sie mir die Hausnummer!“
Europa, das ist Demokratie, Weltfrieden, Völkerverständigung, das ist, mit den Worten des Bundeskanzlers: „Raison d’être“, also etwas Großes und Unvermeidliches. Es findet allerdings auch weit über unseren Köpfen statt – vielleicht begreift bloß ein Gerhard Schröder so gerade noch, was es bedeutet.
Drei Stunden lang debattierte der Deutsche Bundestag gestern, bevor er über die Verfassung der Europäischen Union abstimmte und ihr ein gewaltiges Ja aus 569 Stimmen verschaffte. Nur 23 Abgeordnete stimmten mit Nein: Die beiden PDS-Abgeordneten, zwanzig Unionspolitiker und der fraktionslose Rechtsaußen Martin Hohmann. Zwei SPD-Abgeordnete enthielten sich. Damit fiel der Widerstand aus den Unionsreihen doch stärker aus als bei einer internen Probeabstimmung am Dienstag, bei der es nur 13 Gegenstimmen gab. Merkels Disziplinierungsmaßnahmen – niemand ist vor dem Verlust von Wahlkreis oder Listenplatz gefeit – waren also nicht ganz so erfolgreich wie erhofft.
Viele Rednerinnen und Redner bemühten den Begriff „historisch“, um die Bedeutung der Stunde zu unterstreichen. Doch war der Saal meist halb leer, und fast alle Wortbeiträge blieben so matt wie der Applaus. Die deutsche Bundestagsdebatte über die europäische Verfassung, das waren teils Wahlkampfparolen und Allegorien wie die 50 Fliesenleger, teils Staatsmännischkeiten wie die „Raison d’être“ des Kanzlers. Der bat, „nicht allzu kleinlich und detailversessen auf den einen oder anderen Halbsatz in diesem oder jedem Paragrafen des Gesamtwerkes zu schauen“.
Nur zwischendurch tauchten heikle Fragen auf, die derzeit viele verfassungsskeptische Europäer bewegen. Grünen-Fraktionsvize Christian Ströbele stellte sie: „Was ist an dem Vorwurf dran, dass es mit der Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung gibt? Was ist an dem Vorwurf dran, dass es eine neoliberale Verfassung sein soll?“ Nun ja. Aus Ströbeles Sicht offenbar nicht allzu viel – jedenfalls stimmte er am Ende zu. Für die Globalisierungskritiker von Attac eine unverständliche Entscheidung. Ihr Mitbegründer Jean-Pierre Beauvais war extra nach Berlin gekommen, um parallel zur Bundestagsdebatte auf die Fehler in der Verfassung aufmerksam zu machen. Sie sei „liberal, neoliberal, ja, ultraliberal!“. Der Bremer Volkswirtschaftler Jörg Huffschmid kritisierte, dass die Wirtschaftsordnung in einer Verfassung nichts zu suchen habe. Schließlich sei das Modell des freien Wettbewerbs umstritten und müsse der fortwährenden politischen Diskussion unterworfen werden. Attac-Europaexperte Stephan Lindner betonte den Zusammenhang von Wissen und Meinung: „Je besser die Bürger informiert sind, desto mehr lehnen sie die EU-Verfassung ab.“
Die Verfassungsfans im Parlament erklärten das Gegenteil: Wer sich die Verfassung anschaue, lerne sie schätzen. Allein der Grundrechteteil „ist schon Grund genug, zuzustimmen“, erklärte Außenminister Joschka Fischer. „Die Alternative zu dieser Verfassung ist der Nizzavertrag. Es wird keine bessere Verfassung geben.“ Dies gestand auch Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber zu. Er tröstete die Quertreiber in seinen Reihen, auch ihnen biete der Vertrag etwas: „Der Verfassungsvertrag eröffnet eine Alternative zur Vollmitgliedschaft“ – also die Möglichkeit, die Türkei nicht in die EU hineinzulassen.
Einig waren sich alle: Ein Ja zur Verfassung ist auch ein Ja zu „gewaltiger Arbeit“ (Fischer). Wer meint, der Deutsche Bundestag sei nicht geschwächt, sondern gestärkt, muss Brüsseler Akten lesen, um die Stärke zu nutzen. Europa, das werden dann viele kleinliche, aber entscheidende Halbsätze sein.