: Die Groupies vom Prenzlauer Berg
REPORTAGE Als Teenagerin war Lea Streisand ständiger Gast im Pankower Kulturareal Ernst-Thälmann-Park, spielte dort Theater, rauchte ihre erste Zigarette, verliebte sich. Jetzt besuchte sie das bedrohte Projekt
■ Heute soll die Bezirksverordnetenversammlung Pankow über den Haushaltsplan 2012/2013 entscheiden. 5 Millionen Euro pro Jahr soll der Bezirk sparen. Da die meisten Ressorts gesetzlich gesichert sind, setzt man beim Sparen hauptsächlich auf die Kultur. Das Kulturareal Ernst-Thälmann-Park mit Wabe, Theater unterm Dach, Galerie Parterre und Jugendtheateretage soll treuhänderisch an die Gesellschaft für Stadtentwicklung (GSE) abgegeben werden. Die Kultureinrichtungen müssten dann Miete bezahlen. Kleine Projekte wie das Jugentheaterprojekt „geshakespierct“ fürchten um ihre Existenz.
VON LEA STREISAND
Als ich die Tür zum Treppenhaus öffne, knipst der Geruch die Erinnerungen an. Das rote Backsteinhaus sieht nicht nur genauso aus wie 1995. Es riecht auch so.
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1995 bin ich 15 Jahre alt und unsterblich verliebt. Wie meistens. Die Protagonisten sind zumeist ahnungslos und wechseln ständig. Nur das Gefühl bleibt mein steter Begleiter. Einmal die Woche probt die Band des derzeitigen Jungen meines Lebens hier in den Kellerräumen des Kulturhauses. Meine beste Freundin hat mich hergeschleift. Sie ist die Freundin des Schlagzeugers der Band.
Und es wäre doch toll, wenn ich die Freundin des Freundes des Freundes meiner Freundin [sic!] werden würde. Nun kommen wir Woche für Woche „zufällig“ bei den Proben vorbei und jubeln unseren Helden frenetisch zu. Die Groupies vom Prenzlauer Berg.
In einem Monat wird die Band „Baby Hartmut“ beim Schülerbandwettbewerb „Bandbreite“ direkt nebenan in der Wabe auftreten. Wahrscheinlich werde ich dann vor Verzückung in Ohnmacht fallen. Seit Wochen habe ich aufregende Träume, wie der Junge ans Mikrofon tritt vor dem versammeltem Publikum, seine Blicke suchen gerade mich, dann schaut er mich an und er haucht: „Dieser Song ist für dich, Baby!“
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Im ersten Stock, zwischen Galerie Parterre und Theater unterm Dach probt immer mittwochs das Jugendtheaterprojekt „geshakespierct“. „Ja super! Mehr, mehr!“, feuert Martin Krahn seine jugendlichen Mimen an. Er schreibt die Shakespeare-Adaptionen für die Gruppe. Heute führt er auch Regie. Anaximander Mäde, die zweite Kursleiterin, ist ganz furchtbar heiser. Krahn nicht: „Genau so!“, dröhnt es durch den Probenraum. „Und jetzt Lisa und Erik von der anderen Seite.“
Zwei Mädchen stolzieren in Dirndln über die Bühne und giften sich an. Eine dritte trägt ein Hare-Krishna-Outfit. Geprobt wird Shakespeares „Die lustigen Weiber von Windsor“. Heute ist Kostümprobe. Das Stück spielt in einer Kleingartensiedlung. Ende Mai ist Premiere.
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Auf derselben Bühne probte mein DS-Kurs. Ich war achtzehn, ging in die 12. Klasse, hatte mit Rauchen angefangen und dafür mit Essen aufgehört. Darstellendes Spiel war das einzige Fach, in dem ich nur eine Zensur schlechter geworden war. Nicht nur, weil ich die morphiumsüchtige Frau Knobbe aus den „Ratten“ von Hauptmann schon vom Erscheinungsbild her so überzeugend geben konnte. Der Kurs war eine Zuflucht für mich.
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Das heutige Projekt „geshakespierct“ entstand aus dem Unterrichtsfach Darstellendes Spiel der Primo-Levi-Schule, flüstert Anaximander Mäde. Dann brachten Schüler ihre Freunde mit. Jetzt wird der Kurs als freiwilliges Projekt weitergeführt. Die Jugendlichen kommen aus allen Berliner Bezirken. Anna war vorher an der Schauspielschule für Bühnenkunst in Adlershof, die dann aufgelöst wurde. Jetzt fährt sie jeden Mittwoch von Schöneweide bis nach Prenzlauer Berg. „Es gibt in ganz Berlin kaum noch solche freien Theatergruppen wie diese hier“, erzählt die 17-Jährige. Die Zahl solcher Angebote für Jugendliche in Berlin ist in den letzten Jahren rapide gesunken. Die wenigen verbliebenen müssen immer wieder um ihre Existenz bangen. Der Vorwurf lautet immer gleich: Kulturelle Bildung kostet nur und bringt keinen messbaren Profit. Die Jugendlichen kämpfen für ihr „geshakespierct“, gehen zu jeder Bezirksverordnetenversammlung und halten die Fahne hoch. „Sein oder Nichtsein“ steht auf ihrem Transparent. Lisa, ein Mädchen mit knallroten Locken, spricht mich an, als ich meine Sachen zusammenpacke. Die anderen sind schon in der Garderobe: „Darf ich Sie auch mal was fragen?“, fragt sie schüchtern. „Ja, na klar“, sage ich. „Also“, beginnt das Mädchen, „ich schreibe manchmal Artikel für die Schülerzeitung. Können Sie mir einen Tipp geben, wie man eine richtige Journalistin wird?“ Ich lächle sie an: „Mach einfach genau das weiter, was du tust.“