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Archiv-Artikel

Spaßiges aus Fernost

PLATTE ILLUSTRATION Yu Huas Roman „Brüder“ über das China des 20. Jahrhunderts

VON LENNART LABERENZ

Siebenhundertfünfundsechzig Seiten sind es am Ende. Solche siebenhundertfünfundsechzig Seiten können sehr lang werden, bestenfalls kurzweilig, gelegentlich sogar belanglos. Selbst wenn sie so Spannendes wie die kümmerlichen Begebenheiten der Kulturrevolution, die bleiernen Zeiten danach, den Aufbruch Chinas in den rabiaten Staatskapitalismus durchmessen: Als der letzte Satz gelesen und verklungen ist, kann das Kopfkratzen beginnen. Womit haben wir es da zu tun? Was halten wir in der Hand? Einen Jugendroman? Eine der Zensur untergeschobene, mithin subversive, deshalb oberflächlich ins Leichtfertige tendierende Erzählung? Ein Vehikel mit eher kommerziellen Absichten?

„Brüder“ von Yu Hua ist zunächst die Geschichte zweier Halbbrüder, die von sehr unterschiedlichen Enden „unserer kleinen Stadt Liuzhen“ kommen und sich siebenhundertfünfundsechzig Seiten später an sehr unterschiedlichen Enden wieder finden. Der eine, Glatzkopf-Li genannt, ein etwas kleinwüchsiger Straßenganove, später dick, meistens vulgär und irgendwie auch liebenswürdig, wird Millionär, oder „Super-Multimillionär“, wie er sich selbst sieht. Der andere, Song Gang, wurzelt eher auf dem Land, großgewachsen, ist etwas träge, schüchtern auch und natürlich liebenswürdig, wird später kitschig-selbstlos auf den Gleisen vor der Stadt sein Ende suchen und finden. Dazwischen liegen die Kindheit der beiden, in der viel Rotz aus der Nase und Schweiß von der Stirn fließt; sexuelles Erwachen, Niederschläge und körperliches Erstarken; die Kulturrevolution, die den Vater der beiden zunächst zum größten Fahnenschwenker des Ortes, schließlich zum totgeprügelten Leichnam vor der Busstation befördert; Jahre der Trennung und hungernde Wanderschaft durch die kleine Stadt; hocherfreutes Wiederfinden und dann erneute Trennung ob einer Frau.

Während Glatzkopf-Li früh die Konventionen der Parteidoktrin in den Wind schreibt, Eigeninitiative und Entrepreneursgeist entwickelt, liest Song Gang zunächst Bücher, ordnet sich dann unter und erlebt den Niedergang der staatlichen Industrie aus der Arbeiterperspektive. Vor lauter Gradlinigkeit der Personenentwicklung kann einem schon die Hutschnur hochgehen: Aus dem einen wird, knapp zusammengefasst, ein arrogantes und hoch erfolgreiches Arschloch, der andere ist ein unselbständiges Weichei, zu nichts zu gebrauchen und ohne selbstständiges Urteil. Alleine das Balgen um die Stadtschöne Lin Hong, deren nacktes Hinterteil gleichsam eine innere Klammer des Romans ist, zehrt an der Geduld des Lesers: Während der aufdringliche Glatzkopf-Li mit seiner selbstgerechten Art abblitzt, lässt sich der über die Maßen verschüchterte Song Gang fast noch die Butter vom Brot nehmen. Erst mehrere versuchte Selbstmorde später trennt sich das Brüderpaar und findet die Liebe zueinander. Dabei wälzen sich viele Abschnitte in Pathos, als wollte der Autor kompensieren, was ein Buch nicht kann: nebenher einen süßlichen Hollywood-Soundtrack einspielen.

Unterdessen bietet die Stadt Liuzhen stets einen Resonanzboden für all diese Vorgänge, die Bewohner kommentieren beinahe pausenlos die letzten Geschehnisse, gleichen Literatur und Sprichwörter mit der brüderlichen Entwicklung ab, prügeln, wo Prügel gebraucht werden, sind unempfänglich, wo Empathielosigkeit gezeigt werden soll, stacheln an, wo Zwist auf die Spitze getrieben werden soll. Der Reigen bunter Anekdoten im Roman nimmt mit der Entwicklung der warenproduzierenden Gesellschaft noch zu: Ein Schönheitswettbewerb kurbelt die plastische Chirurgie und die sexuellen Ausschweifungen an, Betrüger treten auf, immer mehr Stadtbewohner werden mit Glatzkopf-Lis Imperium reich, die entwurzelten Arbeiter – unter ihnen Song Gang – zu fliegenden Händlern.

Als die schöne Lin Hong schließlich, ihr mittlerweile sterbenskranker Mann ist mit einem Scharlatan auf Wanderschaft und will den Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Brustvergrößerungsgel sichern, plötzlich ihre Tugendhaftigkeit ablegt und eine detailliert ausbuchstabierte Affäre mit Glatzkopf-Li beginnt, sind wir vollends in der ethisch verlotterten Gegenwart angekommen: Die Unverschämten gewinnen, die Tugendhaften sind dämlich. Als Song Gang gescheitert zurückkehrt, trifft er zwar nicht seine Frau, dafür aber vibriert der Resonanzboden ob des unsittlichen Verhältnisses zur Genüge und der duldsame Song Gang findet noch im Selbstmord einen sauberen Ausweg. Aber damit ist der Roman nicht an seinem Ende angelangt, vielmehr hängt Yu Hua noch weitere Aspekte an, deren hauptsächliche Funktion zu sein scheint, das Absurde und das Eigentümliche der Gegenwart in Liuzhen zu verdeutlichen.

Ein Sittengemälde, so kündigte der Fischer-Verlag Yu Huas Roman an, „ein literarischer Funkenflug“ zumal. Allerdings fliegen die Funken stets sehr illustrativ und außerordentlich theatralisch, statt impliziter Andeutungen urteilt der Autor gleich direkt über seine Personen, auf dass alle es verstehen mögen. Die Idee des „Show, don’t tell“ scheint keine Kategorie von Yu Huas literarischem Schaffen zu sein, die Umkehrung eher die Norm. Auch sprachlich erwarten den Leser hier keine Überraschungen, sondern eher die Bemühungen ums Folkloristische, gewürzt mit Vulgärem und seltsam freistehenden Anglizismen.

Yu Hua, gelernter Zahnarzt und einer der wenigen international erfolgreichen Autoren Chinas, antwortete unlängst auf die Frage, wie er den Umstand, dass China im Oktober Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sei, finde: dass dies „eine große Chance ist und eine sehr gute Gelegenheit für chinesische Bücher, auf den deutschen Markt zu kommen.“ Über siebenhundertfünfundsechzig Seiten wird man das Gefühl nicht los, dass hier ein leicht verdaulicher Strauß Buntes an möglichst viele verteilt werden soll.

Yu Hua: „Brüder“. S.Fischer, 2009. 765 Seiten, 24,95 Euro.