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Archiv-Artikel

Das Gesetz der Steppe

In der Mongolei wohnen viele Menschen noch in Fellhäusern, ziehen sich an wie Dschingis Khan und reisen auf Pferden. Doch das Leben in der Jurte ist nur etwas für Reisende, die Kälte, Ziegenmilchtee und harte Sättel genießen können. Zum Abschied wird eine Ziege mit heißen Steinen gefüllt

Mit den halben Ferngläsern suchen die Männer ihre Tiere, die frei durch die Steppe ziehen

VON DINAH MÜNCHOW UND STEPHAN LISKOWSKY

In der Mongolei beginnt alles bei Brüdern, wobei jeder Verwandte ein Bruder ist und es so scheint, als sei das halbe Land bevölkert von einer Familie. Wir werden in die Familie aufgenommen, weil unser Fahrer Erka Mongole ist und an fast keiner Jurte vorbeifahren kann, ohne einen Bruder zu besuchen.

Schon von weit her leuchten sie, die weißen mongolischen Fellbehausungen, in denen Erkas Brüder leben. Von ihnen lernen wir, was im Gesetz der Steppe geschrieben steht. Paragraf 1, Absatz 1: Gastfreundschaft ist oberstes Gebot. Sobald wir eine Jurte betreten, gehören wir zur Familie, die immer kräftig durchgefüttert wird. Denn keiner weiß, wo und wann es wieder zu essen gibt in dem dünn besiedelten Grasland.

Doch nicht alles, was den Nomaden schmeckt, ist auch für Mitteleuropäer genießbar. In jeder Jurte bekommen wir zur Begrüßung das Bier der Steppe gereicht: Airag – vergorene, alkoholhaltige Stutenmilch, in der quarkige Klumpen schwimmen. Anfangs waren wir nicht abgeneigt, später setzten wir die Schüssel, die von Mund zu Mund gereicht wurde, nur noch an, tauchten die Oberlippe ein und reichten sie schnell – ohne einen Schluck zu nehmen – weiter. Ablehnen wäre mehr als unhöflich gewesen.

Paragraf 2, Gesetz der Steppe: Was in die Schüssel kommt, wird auch getrunken oder gegessen. Ist die Schüssel leer, füllt sie die Hausfrau sogleich wieder auf. Ein Kreislauf, der teuflisch ist und den wir nur durchbrechen können, indem wir stets einen klitzekleinen Rest übrig lassen und beteuern, wie gut es uns geschmeckt habe, wie satt und zufrieden wir seien.

Wir nehmen unheimlich ab. Genießen können wir vor allem den Tee: heiße, mit Wasser verdünnte Ziegenmilch, die gesalzen ist. Meinen es die Nomaden gut mit einem Gast, lösen sie in dem Tee noch ein Stück Käse auf.

Das Gute am Ziegentee ist, dass er warm hält. Denn in den Jurten steht oft nur ein kleiner Blechofen, auf dem gekocht wird. Der Rest des Raums bleibt kalt. Die Wände aus gegerbten Fellen halten kaum dicht, und so wird uns eigentlich nur nachts im Schlafsack wirklich warm. Den Mongolen können die Temperaturen nichts anhaben. Sie sind abgehärtet. Die Kinder seppeln ohne Hose halb nackt über die Tierweiden – mit verklebten Rotznasen in den großen runden Gesichtern. Wie alle Kinder waschen sie sich nur ungern. Doch hier gibt es einen handfesten Grund: Das Wasser im Gebirgsfluss ist eiskalt. Wenn das Waschen unvermeidlich wird, wärmen die Kinder das Wasser im Mund auf, spucken es in die Hände und verteilen es im Gesicht. Entsprechend skeptisch werden wir beäugt, wenn wir am Abend in der Dunkelheit verschwinden, uns mit Zahnbürsten in den Händen zum Fluss aufmachen. Überhaupt, dass wir uns so weit zurückziehen, hinter Bäume, in die Dunkelheit, als hätten wir etwas zu verbergen.

Paragraf 3, Gesetz der Steppe: Es gibt keine Privatsphäre, Jung und Alt leben in einem kleinen runden Raum, die Sippe macht alles gemeinsam. Da wir als Gäste dazugehören, gilt das Gleiche nun auch für uns. Wenn wir uns nach dem Schlafen umziehen, nähern sich uns die Familienmitglieder oft bis auf wenige Zentimeter. Sie sagen kein Wort, rühren sich nicht, sondern starren einfach auf uns exotische Fremde, auf die seltsame Unterwäsche und Kleidung. Uns retten nur ein paar Schokoriegel, die wir verschenken und die nun die volle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Schokolade bekommen die Kinder, das silberne Papier wird sorgfältig im Schrank verstaut. Die Situation entspannt sich zusehends.

Schwieriger wird es bei intimen Erledigungen. Zum Beispiel ist an Klopapier gar nicht zu denken, und die Neugier macht nicht einmal hier Halt. Schwierig für uns, da das Land weit und eben ist. Nomadenfrauen behelfen sich mit ihren langen Seidenmänteln, den so genannten Deels, die ihnen beim Hocken ausreichend Sichtschutz bieten. Wir laufen dagegen, soweit uns die Füße tragen, zumal wir wissen, dass ein richtiger Nomade auch ein Fernglas besitzt. Aber es wäre dumm zu behaupten, die Männer hätten deshalb Ferngläser.

Paragraf 4: Der Nomade besitzt nur das, was er unbedingt braucht. Die Ferngläser werden effektiv in zwei Hälften zerbrochen und dann einzeln benutzt. In der Regel suchen die Männer mit den halben Ferngläsern ihre Tiere, die frei durch die Steppe ziehen – oft einige Kilometer von den Jurtenlagern entfernt. Die Yakkühe und Ziegen kommen zwar von allein angetrottet, um gemolken zu werden, die Pferde aber müssen eingefangen und angepflockt werden. Das alles geschieht unmittelbar vor den Jurten, sodass wer aus der Tür tritt sich oft mühsam einen Weg bahnen muss durch blökende Tiere und Kothaufen.

An einem Abend hat der Familienvater zwei Pferde eingefangen. Die seien, sagt unser Fahrer Erka, die lahmsten und trägsten, wir könnten gut auf ihnen reiten. Auf die Pferderücken werden zwei Holzsättel geschnallt, wir Stadtmenschen sollen aufsteigen. Erst führt uns ein junger Mann am Zügel herum, dann schwingt er sich auf sein Pferd und zieht unsere Gäule hinter sich her, immer schneller reiten wir durch die Steppe. Die Frauen lachen und reißen die Daumen nach oben. Das heißt, wir machen unsere Sache gut. Wir versuchen locker zu bleiben, nicht nachzudenken. Zähne zusammenbeißen – und durch. Im schnellen Trab überqueren wir Flüsse und bezwingen Berghänge. Wir fühlen uns gut, als wir wieder absteigen dürfen.

Schmerzhaft endet der Ritt dagegen für unseren Fahrer Erka. Obwohl ein erfahrener Reiter, fällt er beim schnellen Galopp vom Pferd, eine knochenharte Landung. Der Gaul habe einen schlechten Charakter, sagt er und reibt sich seinen geprellten Arm. Erka hat Glück, dass nichts gebrochen ist. In der Steppe gibt es keine Ärzte, erst in der Hauptstadt Ulan-Bator, drei Tagesreisen entfernt, stehen Krankenhäuser. Aber dorthin hätte Erka ohne Jeepfahrer Erka erst einmal kommen müssen, denn es gibt keine Straßen, allenfalls holprige, steile Pisten. Bei ernsthaften Krankheiten oder schweren Unfällen ist der Weg zu weit, die Nomaden müssen sich selbst helfen.

Der Nomade besitzt nur das, was er unbedingt braucht. Ferngläser werden effektiv in zwei Hälften zerbrochen

Paragraf 5, Gesetz der Steppe: Der Tod reitet immer mit. Hier, im idyllischen Grasland, versteckt er sich nicht wie bei uns, man begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Überall verstreut liegen Tierschädel, Knochen und halb verweste Kadaver.

Nachdem sich Erka von seinem Sturz erholt hat, braucht er seine tägliche Ration Fleisch. Er rät uns, eine Ziege zu kaufen und zu schlachten. 30.000 Tugrik, rund 25 Euro, würde sie kosten und wir könnten ein Festmahl für die ganze Familie geben – zum Abschied. Zu zweit durchqueren die Nomaden die Ziegenherde auf der Suche nach einem geeigneten Tier. Dem öffnen sie das Maul, um uns die gesunden Zähne zu präsentieren. Okay, genau die nehmen wir. Zwar tut uns das Tier Leid, aber mit Sentimentalitäten können wir in der Steppe keinen Blumentopf gewinnen.

Als Erka eigenhändig der Ziege den Hals umdreht, werden uns die Vorzüge der heimischen Bratwurst bewusst: Die hat keine großen Augen und kann im Todeskampf nicht wimmern. Die Nomaden ziehen der toten Ziege das Fell ab. Wir sammeln Feldsteine und legen diese ins Lagerfeuer. Als die Steine fast glühen, werden sie mitsamt dem Fleisch zurück in die Ziegenhaut gestopft. Die Ziege, in der das Fleisch nun gart, verschließen die Männer einem Draht. Friedlich liegt das Tier da und dampft aus dem Maul.

Das Essen wird ein Fest für die Großfamilie, jeder knabbert an einem Knochen, wieder gehen die Daumen nach oben. Als wir an diesem letzten Abend einschlafen, liegt wie zum Dank der Ziegenkopf unter unserem Bett. Wir hätten gern darauf verzichtet, trauen uns aber nicht ihn wegzuräumen. Lieber haben wir die ganze Nacht den Geruch der verkohlten Ziege in der Nase, als uns in den Augen der Familie schon wieder merkwürdig zu benehmen.

Aber das ist jetzt vorbei. Die Jurte und der Ziegenkopf liegen schon einige Stunden hinter uns. Erka summt mongolische Volksweisen und manövriert den Jeep um Felsbrocken und Schlaglöcher herum. Während wir mit dem Kopf gegen die Jeeptüren schlagen, holt uns Paragraf 6, Gesetz der Steppe, ein: Wer einmal in diesem Land war, den lässt es nicht wieder los. Am liebsten wollen wir sofort wieder zurück zu den wilden Reitern, ihren schneeweißen Jurten und den malerischen Sonnenuntergängen.