: Der Molotov-Haarcocktail
RADICAL CHIC Diese tollen langen Sätze: Alan Pauls erzählt vom Widerschein der Siebziger, von Angela Davis’ Afrolook und einer Strähne von Che Guevara – „Geschichte der Haare“
VON CRISTINA NORD
Die vollkommene Rezension des neuen Romans von Alan Pauls müsste aus langen, gewundenen und verschachtelten Sätzen bestehen, aus Sätzen, die sich, da sie nach Herzenslust Einschübe aneinanderreihen und Nebensätze aufeinanderschichten, in der Horizontalen ausdehnen wie die Pampa hinter Buenos Aires und in der Vertikalen wie die Felstürme des Fitz Roy in den argentinischen Anden, mit anderen Worten, diese Rezension müsste, wollte sie sich an „Geschichte der Haare“ anschmiegen, so geschrieben sein, wie es auf den Seiten einer Zeitung nicht einmal in Ausnahmefällen geduldet wird, denn in der Zeitung haben Allgemeinverständlichkeit und leichte Lesbarkeit Vorrang, wohingegen Pauls’ Roman aus langen, mäandernden Sätzen besteht, die von den Alltagsbeobachtungen des Protagonisten, eines Mannes „jenseits der 40“ im Buenos Aires der Gegenwart, zu dessen Kindheitserinnerungen schweifen und dabei manchen Umweg über Gedankengänge, Fantastereien und wahnhafte Vorstellungen machen, besonders die Ängste des Protagonisten interessieren Pauls, Ängste, die umso übersteigerter wirken, als die Sorgen und Nöte des Protagonisten profaner Natur sind, denn seine Frau hat ihn verlassen, fast alle Möbel und den gemeinsamen Hund hat sie mitgenommen, und zu allem Überfluss ist Celso, der einzige Mensch, der das widerborstige Haar des Protagonisten zu frisieren in der Lage ist, verschwunden, sodass dieser es wachsen lässt, bis es wie ein „wandelnder Molotov-Haarcocktail“ ausschaut, und diese Haare sind denn auch die Klammer, die den Roman zusammenhalten, das Leitmotiv, das Pauls virtuos in all seinen Nuancen erforscht, wobei er neben vielem anderen anschaulich macht, dass das Haar einen Teil des Körpers bildet, der zwar zu uns gehört, den von uns abzutrennen jedoch, anders als im Fall eines Fingerglieds oder einer Zehe, nicht wehtut, der selbst dann noch eine Weile weiterwächst, wenn wir schon tot sind, sich also in der Welt der Lebenden verhält wie etwas Totes und umgekehrt in der Welt des Todes wie etwas Lebendiges, und deswegen heißt es in einer Passage, in der der Protagonist beim Friseur sitzt: „Welch sterbliche Schönheit: der Boden um ihn herum, um seine vollkommen unbeweglichen Füße, ein kleiner Friedhof, bepflanzt mit zarten, hauchdünnen Kreuzen aus den gleichen Haarfasern, wie sie unter der Erde in den Gräbern ruhen.“
„Geschichte der Haare“ kreist um den Widerschein der 70er Jahre in der Gegenwart, um die Militärdiktatur, um die linksradikale Militanz und den Radical Chic von einst, um Angela Davis’ Afrolook, um die blonde Perücke einer namhaften Guerillera, um eine Haarsträhne von Ernesto Che Guevara, die ihm kurz nach seiner Hinrichtung im Dschungel abgeschnitten wurde, als sei er ein christlicher Märtyrer, und sosehr man zunächst versucht ist, zu denken, man kenne all dies schon aus Pauls’ Vorgängerbuch „Geschichte der Tränen“, wird man nach einer Weile verblüfft feststellen, wie gut sich das Haarmotiv eignet, um von der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit zu sprechen, zumal sich Pauls wunderbar darauf versteht, das Hölzerne, das der politischen Reflexion und Rhetorik eignet, zu überwinden, indem er das Politische durch das individuelle Bewusstsein seiner Figuren filtert, was ihm besonders eindringlich gerät, wenn er die Perspektive vom Protagonisten an eine Nebenfigur, an einen im Alter von sechs Jahren an der Seite seiner Mutter nach Paris Geflohenen, übergibt, und in der entsprechenden Passage schickt er diesen Mann mit dem Spitznamen Veteran, der Sohn eines verschollenen Widerstandskämpfers ist und sich mit Drogendeals über Wasser hält, zu einer Versammlung von Opfern des Militärregimes, von Angehörigen der „Ordensgemeinschaft der Überlebenden“, wie es an einer Stelle heißt, und diese Veranstaltung findet ausgerechnet am Ort des größten Schreckens und der schlimmsten Folterungen statt, in der ESMA, der ehemaligen Mechanikschule des Militärs, wobei der Sohn des Widerstandskämpfers im Versammlungsraum vor Kälte fast umkommt und nicht begreift, warum die Menschen, als die Diskussion beendet ist, diesen Ort nicht verlassen, „als gäbe es für sie keinen anderen Ort auf der Welt als diese schändliche Krypta, die sie ohne zu zögern noch einmal töten wird“.
■ Alan Pauls: „Geschichte der Haare“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 223 Seiten, 18,95 Euro