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Archiv-Artikel

Das gesunde Volksempfinden

US-GESUNDHEITSREFORM Nachdem Obamas Reformvorschläge für das Gesundheitswesen im Streit versanden, bietet der Sommer seinen Gegnern Gelegenheit für Schimpftiraden

Sarah Palin behauptet, Obama wolle den Staat entscheiden lassen, wer behandelnswert ist

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Es scheint, dass das wirklich heiße Vergnügen der US-Amerikaner in diesem Sommer nicht der Strand ist, sondern der Besuch von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in Rathäusern, sogenannten Town Hall Meetings. Thema dieser Debatten sind nicht etwa die Rezession oder schwindende Arbeitsplätze, sondern die Gesundheitsreform. Die Frage nach der Zukunft des maroden US-Gesundheitssystems hält die Nation in Atem, seit US-Präsident Barack Obama sie im Mai dem US-Kongress stellte, der sich daraufhin in heillosen Streitereien verzettelte.

Nachdem es vor der Sommerpause Anfang August zu keiner Abstimmung über die insgesamt fünf Reformentwürfe kam, war klar: Es wird ein ungemütlicher Sommer. Lobbygruppen beider Seiten nutzen die Pause, um für breite Unterstützung ihrer Positionen zu werben. Bei der Wahl der Mittel sind beide Seiten keineswegs zimperlich.

Was seine Wähler von staatlich verordneter Gesundheitsversorgung halten, das bekam vor wenigen Tagen David Scott, ein schwarzer konservativ-demokratischer Kongressabgeordneter aus Georgia, dick auf seine Bürotür gesprüht, in Form eines fetten Hakenkreuzes. Scott hatte bei einer Rathausversammlung Kritiker angeschnauzt, sie hätten sich vorher bei ihm melden können, anstatt nun das Treffen, das ursprünglich einem Straßenbauprojekt gewidmet war, zu torpedieren. Scott wedelte anschließend vor laufenden Kameras mit einem Flugblatt und warf den Kritikern vor, organisiert zu sein. Auf dem Flugblatt ist Obama zu sehen, als Joker im Batman-Film.

Ein anderer Kongressabgeordneter aus Texas fand seinen Namen auf einem symbolischen Grabstein wieder. Der prominente demokratische Senator Arlen Secter, der Obamas Reformpläne unterstützt, erlebte am Dienstag bei zwei Diskussionen in Pennsylvania sein blaues Wunder. Er wurde von aufgebrachten Bürgerinnen als „Tyrann“ beschimpft. Ein Teilnehmer versicherte dem gestandenen Politiker, ihn und seine Capitolskollegen werde Gottes gerechter Zorn ereilen. Ein anderer schrie Specter ins Gesicht, Amerika werde in Russland verwandelt, womit er auf die landesweit gefürchtete „sozialistische Medizin“ anspielte. Um ihn herum skandierten derweil mehrere hundert zornige Bürger: „Du dienst uns!“ und „Lies gefälligst den Gesetzentwurf!“.

Ein Abgeordneter aus Texas fand seinen Namen auf einem symbolischen Grabstein

Den medienwirksamsten Coup teilte die Ex-Gouverneurin von Alaska und gescheiterte republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin vor wenigen Tagen aus. Die Politikerin, die ihren Gouverneursposten vergangenen Monat völlig überraschend aufgab, behauptete, Obama wolle ein staatliches „Todesgremium“ schaffen. Dieses Gremium solle darüber entscheiden, wer es wert sei, in den Genuss von Gesundheitsfürsorge zu kommen, und wer nicht. „Ein solches System ist geradezu böse“, hatte Palin gesagt und damit auf Ängste angespielt, der US-Staat könne in Zukunft die Leistungen von Krankenkassen bestimmen und ältere, morbide Patienten benachteiligen. Die USA streiten seit knapp hundert Jahren über die Einführung einer allgemeinen, allen zugänglichen Gesundheitsversorgung. Das Gesundheitswesen in den USA gilt als das weltweit teuerste. Ärztliche Dienste und Medikamente kosten in der Regel bis zu viermal mehr als in Europa. Vor allem aber sind über 46 Millionen von 300 Millionen Amerikanern unversichert und daher dramatisch unterversorgt.

Eine Abkühlung der hitzigen Stimmung ist nicht in Sicht. Noch am Dienstagmorgen hatte Obama einem vielfach veröffentlichten Kommentar von Parteigenossin und Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi widersprochen. Pelosi hatte intolerantes und destruktives Verhalten bei den hitzigen Debatten als schlicht „unamerikanisch“ gegeißelt; Obama begrüßte hingegen die partizipatorische Demokratie in den USA. Doch schon am Nachmittag appellierte Obama an seine Gegner, zu Vernunft und Sachlichkeit zurückzukehren. Ausdrücklich warnte er davor, die lange überfällige Reform zu verteufeln. Auf Palin anspielend sagte Obama bei einem Bürgertreffen in Portsmouth in New Hampshire, Kritiker versuchten, „einen Buhmann zu konstruieren, den es in Wahrheit nicht gibt“. Das Publikum rief er dazu auf, nicht auf diejenigen zu hören, „die dem amerikanischen Volk Angst machen und es in die Irre führen wollen“.

„Jedes Mal, wenn wir nahe dran sind, eine Gesundheitsreform durchzusetzen, schlagen die speziellen Privatinteressen zurück“, sagte ein sichtlich frustrierter Obama. „Wirklich Angst macht, wenn nichts gemacht wird.“ Obama kündigte an, er wolle die Gesundheitsreform bis Ende des Jahres unter Dach und Fach haben.