: Die vergessene Befreiung
Eine Ausstellung widmet sich jenen, die durchs Kriegsende befreit wurden: Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen

Von Klaus Hillenbrand
Martinus van Deutekom wird sehnsüchtig auf seine Befreiung gehofft haben, so viel ist sicher. Der Niederländer war Zwangsarbeiter in einer Fleischwarenfabrik in der Reichshauptstadt. Er hatte 1941 die Berlinerin Hildegard Gromann geheiratet, mit der er gemeinsam in der Neuköllner Schillerpromenade 39 wohnte. Doch vor der Befreiung kam der Hunger. Die Deutschen sollten so wenig wie möglich unter der Lebensmittelknappheit leiden, entschieden die Nationalsozialisten. Umso mehr litten die Zwangsarbeiter, in Berlin 370.000 an der Zahl. Auch der Eintritt in einen Bunker war den allermeisten von ihnen versperrt, Splitterschutzgräben blieben für sie der einzige Schutz vor alliierten Bomben. Jeder fünfte der insgesamt 30.000 Berliner Bombenopfer war ein Zwangsarbeiter oder eine Zwangsarbeiterin, lauten Schätzungen.
Der 42-jährige van Deutekom griff gegen den Hunger zur Selbsthilfe. Am 24. April 1945 befand er sich in einer Menge aus Deutschen und Ausländern, die sich im Karstadt-Gebäude am Hermannplatz selbst bedienten. Entwendet wurden Lebensmittel und Stoff. Bis zur Kapitulation der Nazis sollten nur noch Tage vergehen.
Martinus van Deutekom hat seine Befreiung nicht mehr erlebt. Angetrunkene SA-Männer um den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenleiter von Neukölln Franz Basner hielten ihn und andere in der Hermannstraße an. Die des Diebstahls Verdächtigen wurden umstandslos erhängt oder erschossen. Auch Martinus van Deutekom – Basner ist niemals zur Rechenschaft gezogen worden.
Die Geschichte des Mordes an Martinus van Deutekom findet sich in einer bemerkenswerten Ausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide. Es geht um die Befreiung für diejenigen Menschen, die in Deutschland die Niederlage der Nazis 1945 tatsächlich als eine solche empfunden haben: die ausländischen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen, die zu Millionen im Reich festsaßen und bis zum Umfallen schuften mussten.
Es ist eine vergessene Befreiung, die zum ersten Mal überhaupt in einer Ausstellung gewürdigt wird. Für die meisten Deutschen hingegen war der 8. Mai damals gleichbedeutend mit einer Niederlage, verbunden mit Fremdherrschaft, Einquartierungen und Hunger.
Doch vor der Befreiung standen die Verbrechen in der Endphase des Krieges. „Viele Deutsche radikalisierten sich“, sagt Co-Kuratorin Sarah von Holt. Gerade Zwangsarbeiter litten unter den Gewaltausbrüchen fanatischer Nazis. Andere Deutsche agierten nun auffällig freundlich gegenüber den Verschleppten – sie wussten, dass der Krieg verloren war. Vielleicht hatten einige von ihnen das Flugblatt der Alliierten gelesen, das aus Flugzeugen abgeworfen worden war und in der Ausstellung zu sehen ist. „Deutsche! Befolgt keine Befehle zur Schikanierung, Misshandlung und Unterdrückung dieser Menschen“, hieß es da, und es wurde mit „schweren Strafen“ gedroht.
Untergebracht ist die Schau in einer der Baracken, die vor 80 Jahren Zwangsarbeitern zur Unterkunft dienten. Das Schicksal von Martinus van Deutekom findet sich im ersten Kapitel, in dem es um die letzte Kriegsphase geht. Aber auch das zweite Kapitel, das sich der Befreiung selbst widmet, zeigt nicht nur den Jubel der ehemaligen Sklaven, sondern erinnert auch an diejenigen, die diesen Tag nicht erleben durften.
Auf einer virtuellen Karte kann man sehen, wie Tag für Tag mehr Berliner Stadtviertel unter die Kontrolle der Roten Armee gerieten. „Die Unseren sind da! Die Rote Armee! Und wir haben uns fast auf sie gestürzt, um sie zu umarmen – unsere Leute, die Sowjets, sind gekommen! Sie haben uns befreit! Einige von ihnen bemerkten mürrisch: ‚Unsere Leute sind an der Front und kämpfen, aber was macht ihr hier?‘“, erinnerte sich im Jahr 2000 der ehemalige russische Zwangsarbeiter Mikhail Chernenko.
Das Zitat deutet an, was für die sowjetischen Bürger nach der Befreiung folgte: das von Stalin genährte Misstrauen, sie seien in Wahrheit Kollaborateure gewesen, sorgte für ihre Inhaftierung in Filtrationslagern.
Für viele unter ihnen war die Befreiung nur eine Episode von begrenzter Dauer. Co-Kurator Simon Stöckle gibt beim Rundgang durch die Ausstellung auch zu bedenken, dass viele der ikonografischen Siegerbilder in Berlin von Fotografen gemacht wurden, die die sowjetische Propaganda bedienen sollten. „Tatsächlich war die Befreiung oft Teil des Kriegsgeschehens“, sagt er. Weibliche Zwangsarbeiter litten so wie deutsche Frauen unter sexuell motivierter Gewalt von Rotarmisten.
Mariya Vitkevich aus der Region Leningrad, die von den Deutschen zur Fabrikarbeit gezwungen worden war, wurde beschuldigt, den Deutschen sexuell zu Diensten gewesen zu sein. Sie kam für zehn Jahre in ein sowjetisches Straflager.
Und doch war die Befreiung selbstverständlich eine solche. Der sowjetische Kommandeur Ivan Stepanovich Konev schrieb am 24. April 1945 in sein Tagebuch: „[Uns kamen] an diesem Tag überall aus der Gefangenschaft befreite Menschen entgegen. Es war eine ganze Internationale – unsere, französische, englische, amerikanische, italienische, norwegische Kriegsgefangene. Sie hatten es eilig, wenn nicht direkt nach Hause, so doch so schnell wie möglich aus der Kampfzone herauszukommen.“
Die Ausstellung „Vergessene Befreiung. Zwangsarbeiter:innen in Berlin 1945" ist bis zum 2. November im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, Britzer Straße 5, zu sehen. Eintritt frei. Der Katalog (223 Seiten) kostet 10 Euro. (taz)
Im dritten und letzten Kapitel der Ausstellung geht es um die unmittelbare Nachkriegszeit, als sich die Millionen Verschleppten aus Lagern und KZ in ihre Heimat aufmachten – soweit es eine solche noch gab. Denn hunderttausende jüdische Holocaust-Überlebende besaßen weder ein Zuhause noch Familienangehörige. Sie drängten in die Lager unter US-Kontrolle in der Hoffnung auf einen Neuanfang in Palästina oder in die USA.
Berlin entwickelte sich zum Transitpunkt. „Gestern sind wir von Tegel aufgebrochen und wollten in irgendein Lager gehen, das sich in der Nähe der Seestraße befindet. Leider sind wir dort nicht geblieben; wir sind den ganzen Nachmittag gelaufen und einen Teil der Nacht, bis 2 Uhr heute Morgen. Als Lager ein offenes Feld: 15.000 [Menschen] angeblich, irgendwie, irgendwo. Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, trug der französische Ex-Kriegsgefangene Jean-René Vidal am 8. Mai 1945 in sein Tagebuch ein.
„Hier kann man es ganz gut aushalten, es fehlt nur eine kleine Winzigkeit: der Zug nach Hause“, schrieb am 28. Juli der Italiener Tiziano Di Leo. Er konnte erst im September 1945 heimkehren. Es sind solche persönlichen Geschichten, die die Ausstellung so beeindruckend machen.
Mindestens einer allerdings ist geblieben: Der Italiener Guido Greco optierte für Berlin. 1947 eröffnete er sein erstes Lokal in der Stadt. Es geht die Sage um, er habe die Pizza nach Berlin gebracht.
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