: Schriften der Aufklärung
In winziger Schriftgröße und auf dünnstem Papier verbreiteten SPD und KPD nach ihrem Verbot durch das NS-Regime widerständige Botschaften – getarnt als Preisausschreiben oder Haarpflegetipps. Ein Bonner Antiquariat hat sie gesammelt

Aus Bonn und Berlin Klaus Hillenbrand
Geheim!“, prangt in großen Buchstaben im Kopf des Einschreibens: Der NSDAP-Kreishauptmann von Dresden und Bautzen meldet 1936 Ermittlungsergebnisse über die illegale Einfuhr von verbotenen Schriften durch SPD und KPD. „Die auf sehr dünnes Papier gedruckten Hetzschriften sind einzeln in wasserdichten Hüllen jenseits der Grenze in die nach Deutschland fließenden Bäche und Flüsse gelegt, auf der Elbe auch zwischen Stämmen von Flößen versteckt worden und haben schwimmend die Grenze überschritten“, empört sich der Nationalsozialist. Bald darauf notiert die Dresdner Gestapo, das „illegale Material“ komme neuerdings in „runden, verlöteten Blechbüchsen“ daher geschwommen.
Wie brutal die Nazis mit ihren politischen Gegnern umgingen, dass sie dabei von 1933 an auch Morde nicht scheuten, ist bekannt. Weniger verbreitet ist dagegen das Wissen darum, wie sich die verbotenen linken Parteien gegen das NS-Regime zur Wehr setzten. Dazu zählt die Einfuhr von illegalem Schriftgut über die Grenze ins Nazi-Reich, ob in der Aktentasche von Kurieren, verborgen im Motorraum von Autos oder zwischen den Baumstämmen von Holzladungen – oder eben über Elbe und Rhein.
In diesen Tagen wird zum 80. Jahrestag der Befreiung zurecht des Beitrags der alliierten Soldaten gedacht, die die Nazis besiegt haben. Aber nicht alle Deutschen haben sich willfährig dem NS-Regime untergeordnet. Die Parteien der Arbeiterbewegung versuchten mit allen Mitteln, Widerstand gegen die Nazi-Hetze zu leisten. Wenn an die kunstvoll versteckten Schriften erinnert wird, dann auch, weil damit Aufklärung transportiert wurde. Sie haben damit einen kleinen Anteil an der Befreiung.
In Dresden bleibt es 1936 nicht bei einem isolierten Vorfall. Die örtliche NS-Führung muss erkennen, dass linke Propaganda auf dem Wasserweg buchstäblich weiter einsickert. Sozialdemokraten im tschechoslowakischen Exil versenden ihre Flugblätter zu den Vertrauensratswahlen in Fließgeschwindigkeit. Und die Verpackung wird immer origineller. „Ferner wurden in Dresden am 18. 1. 1936 am Elbufer unterhalb der Augustbrücke 83 sog. ‚Glücksbriefe‘ – blaue Umschläge mit der Aufschrift: ‚Die Sterne deuten Ihr Schicksal‘ – aufgefunden. Jeder Brief enthielt je 1 Exemplar der ‚Sozialistischen Aktion‘ “, heißt es in einem Telegramm. Hinzu kommen mindestens 74 Ausgaben der Sozialistischen Aktion, die in Briefumschlägen mit dem Aufdruck „Preisausschreiben Böhme“ per Post an Dresdner Bürger versandt worden sind. Bald geht es auch um Umschläge mit dem Aufdruck „Esst Früchte und Ihr bleibt gesund!“
Knapp 90 Jahre später geht eine feuerrote Kiste über den Tresen vor dem Lesesaal des Berliner Bundesarchivs in der Finckensteinallee im Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Unter der aktuellen Signatur ist, durchgestrichen, „Zentrales Staatsarchiv“ zu lesen. Ganz unten in der Kiste finden sich die Namenslisten derjenigen, die das Material bestellten, als es noch dem Zentralen Parteiarchiv der SED in der DDR gehörte. Ursprünglich allerdings haben ganz andere Leute die Papiere gesammelt. Sie zählten zum Bestand der Nazi-Terrorzentrale Reichssicherheitshauptamt, und zusammengestellt wurden sie vom Sicherheitsdienst der SS.
Die Kiste birgt unzählige Heftchen, manche nicht viel größer als eine Briefmarke, andere im Format von Reclam-Heften, innen meist winzige, nur mit der Lupe lesbare Schrift auf Dünndruckpapier. Es sind Tarnschriften von KPD, SPD und anderen linken Gruppierungen. Außen herum verbergen harmlos klingende Titel den wahren Inhalt. Hier finden sich die Umschläge, in denen das SPD-Material die Elbe herunter schwamm: „Ihr Glücksbrief! Öffnen Sie ihn erst in Ihrem Heim“ steht da, oder „Die Sterne deuten Ihr Schicksal!“. Es sind Titel, die neugierig machen sollen. Oft, das geht aus Gestapo-Akten hervor, war noch ein Zettel beigelegt:
„Wenn Du glaubst diese Zeitung schickt Dir die Polizei, um Deine Gesinnung zu prüfen, dann gib sie bei der Polizei ab. Auch Polizeibeamte lesen gern einmal die Wahrheit über das Dritte Reich. Vorher aber lies die Zeitung und gib den Inhalt mündlich weiter.
Die Tarnschriften in der roten Kiste haben ihr Ziel vermutlich nicht erreicht. Wie viele dieser Sendungen den Nazis ihn Hände gefallen sind, lässt sich nicht herausfinden, doch es dürfte eine große Zahl gewesen sein. Auch die illegalen Parteizellen im Reich wurden von der Gestapo häufig ausgehoben. Ihre Mitglieder kamen hinter Gitter und konnten von Glück sagen, wenn es bei Gefängnisstrafen blieb und sie nicht in ein KZ überstellt wurden. Es war grundsätzlich keine gute Idee, Tarnschriften in der Wohnung zu bunkern. Und so ist wohl das Gros dieser ungewöhnlichen Literatur vernichtet worden, noch bevor die Nazis besiegt waren. Das aber macht dieses Schriftgut heute sehr, sehr rar.
Esther Winkelmann und Jürgen Rebschläger sitzen in einem Lagerraum voller Bücher in der Bonner Nordstadt. Winkelmann breitet auf einem Tisch Dutzende kleine und kleinste Tarnschriften aus. Ihre Titelgestaltung zeugt von der Kreativität ihrer Macher. „Fahrpläne und Preise“ der Sächsisch-Böhmischen Dampfschifffahrt Dresden verspricht etwa der Umschlag eines Heftes. „Augen auf! Das Büchlein zur Unfallverhütung für jung und alt“ von 1937 verbirgt in seinem Innenteil wiederum eine Rede Georgi Dimitroffs, des Generalsekretärs der Kommunistischen Internationale, über Faschismus und Krieg. Der „Reiseführer, unentbehrlich für jeden Besucher der Olympischen Spiele zu Berlin“ zeigt außen herum das Foto eines romantischen Flusstals, im Innern aber findet sich eine Übersichtskarte der Standorte von KZs, Haftanstalten und Gerichtsgefängnissen.
Auch Worte Prominenter oder solcher, die es später einmal werden sollten, sind in den Tarnschriften vertreten. Heinrich und Thomas Mann erscheinen ebenso im Dünndruck wie der spätere SED-Chef Walter Ulbricht, DDR-Präsident Wilhelm Pieck und Herbert Wehner (Bonner SPD-Fraktionschef), der unter seinem Tarnnamen Kurt Funk der Frage nachgeht, ob es fortschrittliche Tendenzen im Faschismus gibt.
Rebschläger, Jahrgang 1961, kam vor 30 Jahren durch Zufall zum Buchhandel. Ein Berliner Antiquar bot ihm seine Sammlung von 60.0000 Büchern an, fast ausschließlich DDR-Literatur. Rebschläger, Repi genannt, schlug ein. „Man hat mich für bekloppt gehalten“, sagt er. Heute betreibt er zusammen mit der acht Jahre jüngeren Esther Winkelmann ein, wie er sagt, „linkes, antifaschistisches, sozialistisches, kommunistisches Antiquariat“.
„Wie haben uns relativ viel mit der KPD beschäftigt und sind da selten auf Humor gestoßen. Aber es gab ihn offensichtlich doch“, sagt Rebschläger zur Titelgestaltung der Tarnschriften. Zudem ist offensichtlich, dass die unbekannten Macher große Lust verspürten, die Nazis bis aufs Blut zu reizen. Wie sonst sollten sie auf die Idee gekommen sein, ihre Propaganda ausgerechnet in einem Umschlag zu verpacken, der, getarnt als Prospekt, Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ bewarb? Ein „Neues S. A.-Liederbuch“ mit einem nach links gedrehten Hakenkreuz auf dem Titel reimt das Horst-Wessel-Lied um:
„Die Preise hoch, die Schnauze fest geschlossen,
Hunger marschiert in ruhig festem Schritt,
Hitler und Goebbels, unsre beiden Volksgenossen
Der 8. Mai 1945 markiert die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Die Kapitulationserklärung war am 7. Mai im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte im französischen Reims unterzeichnet worden. Alle Kampfhandlungen sollten um 23.01 Uhr am 8. Mai eingestellt werden. Allerdings zogen sich die Kämpfe weiter hin: Als im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde, war es in Moskau bereits nach Mitternacht. In Russland feiert man den „Tag des Sieges“ deshalb erst am 9. Mai. In Asien ging der Krieg noch weiter, Japan kapitulierte erst am 2. September 1945.
Tag der Befreiung In der DDR war der 9. Mai gesetzlicher Feiertag. In der Bundesrepublik war der 8. Mai zunächst wenig beachtet, erst in den 80er Jahren entspann sich eine Debatte über das Gedenken: Sollte die Niederlage im Vordergrund stehen oder die Befreiung?
In Berlin ist der 8. Mai in diesem Jahr einmalig ein Feiertag. Auf dem Bebelplatz fordert um 8 Uhr der Berliner Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, dass der 8. Mai jedes Jahr arbeitsfrei ist. Wie jedes Jahr gibt es zahlreiche Gedenken, unter anderem um 11.30 Uhr eine Kranzniederlegung an der Neuen Wache mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Hungern im Geist mit uns Proleten mit.
Am Arbeitsamt wird SOS geblasen,
Zum Stempeln stehn wir alle Mann bereit.
Statt Brot und Arbeit gibt der Fuehrer uns nur Phrasen,
Und wer was sagt, lebt nur noch kurze Zeit.“
Winkelmann und Rebschläger kommen aus der linksradikalen Ecke und haben sich mit ihrem Antiquariat Markov auf Werke der Arbeiterbewegung und des Exils spezialisiert. Dazu zählen selbstverständlich auch die höchst seltenen Tarnschriften, wobei für ein makelloses Exemplar mit 20 oder 30 Seiten von Sammlern leicht 300 Euro über den Ladentisch gehen. Weil das Thema bis auf eine einsame Veröffentlichung aus DDR-Tagen wissenschaftlich so gut wie brach liegt, haben sie sich autodidaktisch weitergebildet und sind zu Tarnschriften-Experten geworden.
Esther Winkelmann, Antiquarin
„Die Nazis müssen stinksauer gewesen sein“, vermutet Rebschläger über die Verwendung ihrer eigenen Symbole durch die Gegner. „Die waren auch emotional sehr angefasst, auch weil diese Schriften ja von Deutschen kamen. Und deshalb auch sehr brutal. Erst kam die Empörung und dann die Wut.“
Entsprechend drakonisch fielen Strafen aus. Ein Beispiel über die Verfolgung findet sich im Bundesarchiv. Es handelt sich um Anklage und Urteil des Kammergerichts Berlin aus den Jahren 1939 und 1940 gegen sieben Männer aus der Kleinstadt Calbe an der Saale, die den Nazi-Juristen zufolge in einer Zelle der KPD aktiv gewesen sind. Zu ihren Vergehen zählte, dass sie mit „illegalen Schriften beliefert“ worden seien, darunter einer „getarnten Broschüre, betitelt ‚Der ideale Ehegatte‘. Auch ein „braunes Buch“ wird in der Urteilsbegründung erwähnt, womit nur das berühmte Braunbuch der KPD gemeint sein kann, das in einer Dünndruckausgabe in Deutschland verbreitet wurde und ab 1933 die Verbrechen des NS-Regimes darstellt.
Aus den Papieren des Kammergerichts geht hervor, dass die Zahl der gelieferten Schriften in Calbe offenbar so gering war, dass diese gegen eine „Lesegebühr“ von 20 Pfennigen ausgeliehen und an einen zuständigen Genossen zurückgegeben werden mussten.
Wegen Hochverrat wurden die sieben Angeklagten Anfang 1940 zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen zwischen einem Jahr und neun Monaten und zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Möglicherweise gerieten einige von ihnen anschließend in KZ-Haft.
„Der ideale Gatte“ aber war ein damals populärer Kinofilm nach dem Theaterstück von Oscar Wilde. Der Inhalt der KPD-Broschüre liest sich freilich etwas anders. Dort ist die Rede eines „Walter“ auf der Sitzung des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale von 1935 wiedergegeben:
„Genossen! Ich habe die Absicht, in meinen Ausführungen vor allem jene Ausführungen des Genossen Dimitrow für Deutschland zu konkretisieren, die sich auf die Frage des Weges zum Sturz der faschistischen Diktatur beziehen. Die KPD wird alle Mittel und Wege anwenden, um den Sturz des Hitlerfaschismus herbeizuführen (Beifall). Zu diesem Zweck wollen wir uns mit allen antifaschistischen, antireaktionären Kräften verbinden.“
Esther Winkelmann sagt dazu, neben der Bücherlast der Regale stehend: „Solche Schriften hatten auch die Funktion des moralischen Aufbaus. Gegen die Vereinzelung. Ich fühle mich allein, aber ich sehe, es gibt noch andere.“ An der Lebenswirklichkeit der Arbeiter in Nazi-Deutschland gingen sie vorbei. Das gilt erst recht für die in KP-Tarnschriften gerne gedruckten Texte von oder über Josef Stalin. Das liest sich dann in der Broschüre mit dem Tarntitel „Der Runenberg“ so:
„Die Völker der Sozialistischen Sowjetunion haben sich auf ihrem am 5. Dezember 1936 abgeschlossenem VIII. Außerordentlichen Sowjetkongreß eine neue Staatsverfassung gegeben, die Freiheiten und Rechte enthält, wie sie den Völkern der ganzen kapitalistischen Welt noch als fernes Ziel ihres Befreiungskampfes vorschweben. Dieses Werk von größter historischer Bedeutung ging aus der kühnen Initiative und weisen Schöpferkraft des großen Stalin hervor und drückt die gewaltigen Veränderungen aus, die unter seiner Führung in dem großen Sowjetreiche von den Arbeitern und Bauern errungen wurden.“
Antiquar Rebschläger hat dazu eine eindeutige Meinung: „Spätestens der stalinistische Kommunismus hatte stark katholische Züge und viel mit Glauben zu tun. Der Glaube muss immer wieder reproduziert werden. Meine vollkommen freihändige Interpretation für diese ganzen Stalin-Texte lautet: Der große Meister ist noch da. Im Kreml brennt noch Licht. Fürchtet Euch nicht. Der Glauben braucht ständig Gebete.“
Man kann nicht behaupten, dass die KPD im Exil besonders freundlich mit ihren Gegnern umging, auch wenn diese ebenso wie sie selbst verfolgt wurden. In den Anfangsjahren der Hitler-Diktatur warfen KP-Genossen getreu ihrer Sozialfaschismus-These der Sozialdemokratie vor, für den Aufstieg der Nazis Verantwortung zu tragen und gar mit ihnen zu paktieren. Später, mit dem Versuch, eine Einheitsfront zu bilden, muss die Leitung im Exil an ihre Mitglieder in Deutschland appellieren, ideologischen Ballast gegen die SPD abzuwerfen und ein freundliches Gesicht aufzusetzen. 1934 erging sich die KP in der Broschüre „Wie wasche ich schnell und sparsam?“ über die Morde an der SA-Führung in schwulenfeindlicher Propaganda.
Doch viele der Tarnschriften waren tatsächlich aufklärerisch im besten Sinne – sie berichteten, was die NS-Presse verschwieg. Das gilt etwa für Dünndruck-Broschüren über die Gestapo und den Alltag in Konzentrationslagern. Die Exil-SPD verteilte dazu 1934 eine Tarnschrift mit dem Titel „Volk und Führer. Das Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit“. Tatsächlich berichtete darin aber der ehemalige Reichstagsabgeordnete Gerhart Seger über seine Zeit im KZ Oranienburg:
„Ein führendes Mitglied des Reichsbanners (Vorfeldorganisation der SPD, d. Red.) der Stadt Oranienburg, Richter, wurde kurz nach seiner silbernen Hochzeit ins Lager gebracht. Da unter der SA-Wache des Lagers sich eine Anzahl Oranienburger SA-Leute befanden, ergab es sich beinahe von selbst, dass von ihnen an dem früheren politischen Gegner Rache genommen wurde, aber das Ausmaß, in dem das geschah, war tatsächlich entsetzlich. Nacht für Nacht erschienen vertierte SA-Leute in dem Schlafraum, in dem Richter lag, und schlugen ihn wie verrückt, und auch in dem Arrest wurden diese Mißhandlungen fortgesetzt.“
Besonders hoch anzurechnen ist die Solidarität, die in Tarnschriften mit den verfolgten Jüdinnen und Juden geübt wurde. Von der KPD existieren mindestens zwei Hefte, die sich mit dem Novemberpogrom 1938 beschäftigen. Eines davon trägt den Titel „Excentric Shampoo. Das Beste für die Haarpflege“ und beinhaltet tatsächlich ein mit Pulver gefülltes Beutelchen nebst Gebrauchsanweisung, wie man daraus mithilfe von heißem Wasser ein Haarwaschmittel herstellen kann. Im Innenteil geht es aber nicht um Haare:
„Der Einsatz der Himmler-Goebbelsschen Bürgerkriegs-Organisation am grauen Morgen des 10. November hat vorzüglich ‚geklappt‘, wie es in der Redeweise der Veranstalter heisst. Als die Massen den Bevölkerung ihre Wohnstätten wieder verliessen, standen in ganz Deutschland bereits hunderte von Synagogen in Flammen. (…) Falls die Polizei auf den Plan trat, durfte sie den Absperrungsdienst übernehmen, um das Publikum, die angeblichen ‚Träger der Aktion‘ fernzuhalten. War die Feuerwehr alarmiert, so durfte sie dafür Sorge tragen, dass die ‚arischen‘ Nachbarhäuser von dem Brand verschont blieben.“
Ob man mit dem Shampoopulver heute noch die Haare waschen kann, bleibt ungewiss. Zu wertvoll sind die unberührten Tarnschriften, als dass man sich diesen Spaß machen sollte.
Auf die Frage, was man über die Macher der Schriften weiß, antwortet Rebschläger in seinem vollgestopften Lager mit einem einzigen Wort: „nichts“. Dabei hätten sie nichts unversucht gelassen: „Wir haben mit vielen Überlebenden geredet. Mit KPD-Leuten. Wir haben versucht, sie dahin zu drängen, ihre Memoiren zu schreiben. Sie haben nichts herausgerückt.“
Was man weiß: In der KPD organisierten Abschnittsleitungen in Prag, Zürich, Paris, Brüssel, Amsterdam, Kopenhagen und ab 1939 Malmö den Vertrieb. Sie verfügten über ein Netz von Helfern und Kurieren. Sowjetische Instrukteure überwachten die Arbeit. Vermutlich konnten die Macher keineswegs frei über den Inhalt der Schriften entscheiden. Die Auflage lag häufig bei etwa 10.000 Exemplaren. Bei den Sozialdemokraten mit ihrem Auslandssitz in Prag, später London, bestanden ähnliche innerparteiliche Strukturen.
Mit der Besatzung der Tschechoslowakei im Frühjahr und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 brachen alle mühsam aufgebauten ausländischen Strukturen zusammen. Auch die Zahl der Tarnschriften verringerte sich erheblich. Eingeschleust wurden sie nun vor allem aus Schweden und der Schweiz.
Aber das Gros der Aufklärung kam nun nicht mehr einen Fluss herunter oder wurde von proletarischen Bergsteigern über Gipfel getragen, sondern flog aus der Luft herein: Die von Flugzeugen abgeworfenen Schriften der Alliierten, die über die wahre Lage im Krieg aufklärten, waren die würdigen Nachfolger der Tarnschriften von links.
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