: Kein Happy Birthday
Die NGO SOS Humanity rettet Menschen im Mittelmeer. Jetzt wird sie zehn Jahre alt – und fordert, dass die EU die Zusammenarbeit mit Tunesien beendet. Die neue Bundesregierung will diese eher vertiefen
Von Alice von Lenthe
Es ist kein fröhlicher Geburtstag: Seit zehn Jahren rettet die Organisation SOS Humanity Menschen, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten – weil die EU und ihre Mitgliedstaaten es nicht mehr tun. Im Oktober 2014 beendete die italienische Regierung ihre Seenotrettungsmission „Mare Nostrum„wegen fehlender Unterstützung der EU. Seitdem setzt diese auf Abschottung statt Rettung.
SOS Humanity, das früher SOS Méditerannée hieß, hat seit seiner Gründung im Mai 2015 laut eigenen Angaben mehr als 38.500 Menschen gerettet. Trotzdem sind in diesem Zeitraum fast 25.000 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers gestorben. Die meisten von ihnen sind Geflüchtete, die in Europa Schutz vor Gewalt und Armut suchten.
In einem am Montag veröffentlichten Report kritisiert die Organisation die Europäische Union scharf – vor allem, weil diese eng mit den Regierungen von Libyen und Tunesien zusammenarbeitet, um Menschen an der Ankunft in Europa zu hindern. Die Küstenwachen der beiden Länder bringen Migrant*innen zurück nach Tunesien und Libyen, wo sie systematischen Misshandlungen wie Schlägen, Folter, Vergewaltigungen und Menschenhandel bis hin zu Mord ausgesetzt sind, heißt es in dem Report.
Schon 2022 sprach eine Untersuchungsmission der Vereinten Nationen von dem begründeten Verdacht, dass in Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Migrant*innen begangen werden. Zwischen 2017 und März 2025 wurden laut SOS Humanity 166.393 Menschen auf dem Meer gewaltsam in das nordafrikanische Land zurückgebracht.
Der Report der NGO stützt sich auf Berichte von Augenzeugen, die auch von Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden der Küstenwachen selbst sprechen. Diese würden Schusswaffen und Gewalt einsetzen, um Menschen zurück nach Libyen und Tunesien zu zwingen.
„Drei junge Männner sprangen wegen der schweren Schläge, die sie erleiden mussten, ins Meer. Die libysche Küstenwache ließ sie vor unseren Augen sterben und beschimpfte sie sogar, während sie ertranken. Sie sagten zueinander: Lasst sie sterben, das ist leichter für uns und für sie“, berichtet ein Augenzeuge. Auch die Küstenwache von Tunesien geht laut SOS Humanity gewaltsam gegen Migrant*innen auf dem Meer vor und fährt gezielt Manöver, um Schiffbrüche zu verursachen. Die EU mache sich durch ihre Zusammenarbeit mit den zwei Ländern an alldem mitschuldig.
SOS Humanity rechnet auch die finanziellen Kosten dieser Abschottungspolitik der EU vor. Diese gab in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich über 242 Millionen Euro pro Jahr für „Grenzschutz“ in Libyien und Tunesien aus. Unter anderem werden mit diesem Geld die Küstenwachen finanziert.
Zu ihrem zehnten Geburtstag fordert SOS Humanity von der EU und der deutschen Bundesregierung unter anderem, ihrer Pflicht der staatlichen Seenotrettung nachzukommen, die derzeitige Zusammenarbeit mit der tunesischen und libyschen Küstenwache zu beenden und ein europäisches Seenotrettungsprogramm aufzusetzen.
Dass die neue Bundesregierung diesen Forderungen nachkommen oder sie auf europäischer Ebene einfordern wird, ist allerdings unwahrscheinlich. In dem am Montag unterschriebenen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wird das Wort Seenotrettung nicht einmal erwähnt. Stattdessen sollen Asylsuchende an deutschen Außengrenzen abgewiesen und mehr Länder als sichere Drittstaaten ausgewiesen werden, darunter auch Tunesien.
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