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„Ganz Russland ist am Krieg gegen die Ukraine beteiligt!“

Autor Stanislaw Assejew über seine Hafterfahrungen in einem Folterknast, das repressive System der Putin-Diktatur und prekäre Erfahrungen als Soldat der ukrainischen Armee an der Front

Soldaten der ukrainischen Armee verteidigen sich gegen die Russen mit einem Mörser, Aufnahme Mitte März 2025 nahe Tschassiw Jar/Donnezk Foto: Oleg Petrasiuk/ukrainian 24th mechanized brigade/ap/dpa

Interview Jens Uthoff

taz: Herr Assejew, Sie saßen von 2017 bis 2019 im Donezker Foltergefängnis Isoljazija ein. Wenn Sie sich diesen Ort heute in Erinnerung rufen, woran denken Sie dann?

Stanislaw Assejew: Ich halte mir nicht die Folter vor Augen, die ich dort erlebt habe. In erster Linie sehe ich heute meine Arbeit darin, über das System der russischen Foltergefängnisse aufzuklären. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, was wir tun können, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen und um weitere in Zukunft zu verhindern.

taz: Deshalb haben Sie die Organisation Justice Iniatiative Fund gegründet, die Belege für diese Verbrechen sammelt.

Assejew: Ja. Unsere Hauptaufgabe ist es, detaillierte Informationen über Menschen zu bekommen, die diese Verbrechen begangen haben. Wir brauchen die Namen der Täter, müssen möglichst viel über ihre Funktion und ihre Taten zusammentragen, um sie eines Tages zur Rechenschaft ziehen zu können – wann immer das sein wird.

taz: Sie haben in einem Buch beschrieben, was Sie im Isoljazija ertragen mussten, Prügel, Vergewaltigungen und Folter mit Strom waren alltäglich. Gehen Sie davon aus, dass es in diesem Knast aktuell so zugeht wie damals?

Assejew: Es ist zu vermuten. Wir sehen ja, in welchem Zustand unsere Gefangenen aus anderen russischen Gefängnissen rauskommen. Das ganze Gefängnissystem Russlands ist errichtet, um Menschen zu brechen. Für mich steht es modellhaft für das heutige Russland.

taz: Sie sprechen bewusst von „Konzentrationslagern“. Warum?

Assejew: Es ist – besonders in Deutschland – wichtig zu betonen, dass ich damit nicht Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Sobibor meine. Ich spreche von Konzentrationslagern, wie Deutschland sie von 1933 an errichtet hat und in denen das NS-Regime politische Gegner:innen, Jüdinnen und Juden, „Asoziale“ und andere „Systemfeinde“ gefangen hielt. Diese Art Lager existierten auch schon früher, und sie existierten nach dem Dritten Reich in der Sowjetunion, in Nordkorea, in Syrien, um nur einige Orte zu nennen. Russland sperrt seine inneren und äußeren Feinde noch heute in solche Lager.

taz: Sind Sie deshalb nach Syrien gereist, um sich das Lager in Saidnaya nach Ende des Assad-Regimes anzusehen?

Assejew: Ja. Was ich in Saidnaya gesehen habe, bestätigt für mich, dass Bosheit und Grausamkeiten keine ethnische Zugehörigkeit kennen, sondern dass Beides über Volksgruppen und Ländergrenzen hinweg vorkommt und auch so bekämpft werden muss.

taz: Sie erheben Einspruch, wenn man von „Putins Krieg“ spricht. Warum?

Assejew: Weil ganz Russland am Krieg beteiligt ist. Laut Schätzungen des britischen Verteidigungsministeriums sind etwa 900.000 russische Soldaten seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs verletzt oder getötet worden. Wohl jeder Russe/jede Russin wird einen Verwandten haben, der am Krieg gegen die Ukraine mitwirkt. Dazu gibt es einen riesigen repressiven Apparat im Inneren, zum Beispiel den Sicherheitsdienst, die Russische Garde, die Polizei. Und dann auch noch die Waffenindustrie. Sehr viele Menschen tragen diesen Angriffskrieg mit. Es macht daher keinen Sinn, von „Putins Krieg“ zu sprechen.

taz: Sie waren bis vor einem halben Jahr selbst bei den ukrainischen Streitkräften und wurden beim Einsatz verwundet. Was ist Ihnen passiert?

Assejew: Ich erlitt zwei Verwundungen. Die erste war eine Gehirnerschütterung während eines Angriffs der Russen auf unsere Stellungen, die uns eine Woche lang mit Präzisions­bomben, einem Panzer, Mörsern und Drohnen beschossen hatten. Die zweite Verwundung war ein Granatsplitter aus einer Mine im Nacken und in der Brust. Sie war schwerwiegender, deshalb musste ich eineinhalb Monate in Reha. Während ich im Krankenhaus in Kyjiw lag, wurde unser Bataillon aufgrund von Verlusten an der Front aufgelöst. Danach wurde ich aus der Armee entlassen, weil ich in Gefangenschaft gewesen war.

taz: Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand des ukrainischen Militärs?

Assejew: Die Lage der ukrai­nischen Armee ist schwierig, weil es zu wenig Infanteristen gibt und die Eingezogenen zu schlecht ausgebildet worden sind. Rekruten sammeln den Großteil ihrer Erfahrungen in Kampfbrigaden, während sie in Ausbildungszentren hauptsächlich Zeit und Gesundheit verschwenden.

taz: Sie haben zuletzt Kritik an der politischen und militärischen Führung der Ukraine geübt. Was werfen Sie den Verantwortlichen vor?

Assejew: Im Laufe der Jahre der groß angelegten Invasion hat sich die ukrainische Armee von einer brillanten Kampftruppe mit horizontalen Verbindungen in eine träge sowjetische Armee mit viel Bürokratie und Karrierismus verwandelt. Die militärisch-politische Führung lehnt Kritik ab und unterdrückt sie, die Initiativen talentierter Untergebener werden torpediert, innerhalb des Verteidigungsministeriums und im ganzen Land findet Korruption statt – diese Probleme werden wir nicht überwinden, wenn wir sie leugnen.

taz: Haben Sie konkrete Beispiele für die stärkere Hierarchisierung?

Assejew: Die zieht sich durch die ganze Armee. Die Aus­bildungszentren werden meist von Offizieren geleitet, deren Karriere gescheitert ist – der Ausbildungsprozess dort basiert deshalb auf 15-Stunden-Schichten in der Küche und der Reparatur sowjetischer Gebäude und nicht auf Kampfeinsätzen. An der Front hatte unser Bataillonskommandeur Angst, dem Brigadekommandeur die tat­sächliche Zahl der Kämpfer in der Einheit mit­zuteilen und über ihre schlechte Moral zu berichten. Berichte werden immer positiv verfasst, um die Karrieren nicht zu ruinieren, was nichts mit der Realität in den Schützengräben zu tun hat. Jede Ini­tiative von unten – seien es Infanteriefahrzeuge von ­Frei­willigen oder Drohnen – erfordert langwierige Ge­nehmigungen durch eine Vielzahl von ­Beamten und viel Papierkram.

taz: Sieht die politische Führung diese Probleme nicht?

Assejew: Präsident Selenskyj glaubt wohl, der Sieg sei abhängig von US-Raketen, die uns nicht in der erforderlichen Menge zur Verfügung gestellt werden, ohne zu bemerken, dass die Front aufgrund des Mangels an Infanterie zusammenbricht.

Foto: Stanislaw Assejew
Stanislaw Assejew

Der Journalist Stanislaw Assejew, geboren 1989 in Donezk und dort aufgewachsen, hat schon während des Kriegs im Donbass ab 2014 für ukrainische Medien berichtet. 2017 wurde er von der russischen Armee gefangen genommen und saß zweieinhalb Jahre im Foltergefängnis Isoljazija in Donezk. Über die Zustände dort hat er das Buch „Heller Weg, Donezk. Bericht aus einem Foltergefängnis“ (Suhrkamp, 2023) geschrieben. Er lebt derzeit in Kyjiw, sammelt Beweise für russische Kriegsverbrechen und arbeitet an einem neuen Buch. Beim Gespräch mit Stanislaw Assejew hat Maria Schubchyk aus dem Ukrainischen übersetzt.

taz: Bei dem Rohstoffdeal mit den USA hat Selenskyj aber eine gute Figur abgegeben.

Assejew: Was den Deal über Seltene Erden angeht, sehe ich bislang erhebliche Vorteile für die Ukraine – zumindest wenn er genau so umgesetzt wird, wie in den offiziellen Dokumenten beschrieben.

taz: Was kann die Ukraine denn tun, um den Zusammenbruch der Infanterie zu verhindern?

Assejew: Wir brauchen ein Gesetz, das private Militär­unternehmen reguliert. Wir müssen auch die Laufzeit für Verträge von Infanteristen – zum Beispiel ein Jahr – mit einem festen Satz von 5.000 US-Dollar pro Monat festlegen. Es braucht auch eine professionellere Ausbildung kleiner Infanteriegruppen. Es ist nur natürlich, wenn die Menschen nicht in den Krieg ziehen wollen, ohne dass ihnen klare Fristen für den Austritt aus der Armee genannt werden; ohne Rotation und mit einer fragwürdigen Bezahlung, die vom Einsatzort des Infanteristen abhängt.

taz: Sie kommen aus Donezk. Haben Sie derzeit noch Kontakt dorthin?

Assejew: Ich habe momentan keinen Kontakt nach Donezk. Ein kleiner Teil meiner Familie lebt in Makijwka in der Nähe von Donezk, unter anderem meine Großmutter. Mit ihr spreche ich manchmal. Sie ist alt und auf Sozialleistungen angewiesen. Russland zwingt alle, die dort leben, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Erst vor Kurzem hat Russland erklärt, wer keinen russischen Pass habe, müsse die Territorien verlassen.

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