: Absprung zur zirzensischen Showkultur
Beim Deutschen Turnfest versuchen sich die zu Unrecht als altbacken verschrienen Sportarten als zeitgemäße Show-Events zu inszenieren. Doch ausgerechnet bei der Eröffnungsparade vor dem Brandenburger Tor geht das Konzept nicht auf
VON ANDREAS RÜTTENAUER
Am Samstag zogen 5.000 Turner über die Straße des 17. Juni. 60.000 Turner sahen ihnen dabei zu und erlebten im Anschluss an die Parade die feierliche Eröffnung des Internationalen Deutschen Turnfestes in Berlin auf der großen Bühne vor dem Brandenburger Tor durch Bundespräsident Horst Köhler. Es regnete in Strömen. Dennoch waren beinahe nur fröhliche Gesichter zu sehen. Zunächst wenigstens.
Doch der Umzug, bei dem bunt gekleidete Showgruppen über den nassen Asphalt turnten und tanzten, dauerte allzu lange. Und außer den Turnern selbst interessierte sich beinahe kein Berliner für den Aufmarsch der munteren Turnbewegung. Die aus der ganzen Republik angereisten Sportler feierten sich selbst – so gut es eben ging bei diesem Wetter und bei der mangelhaften Organisation des Umzugs.
Dabei hatte der Deutsche Turnerbund das Programm schon gewaltig gestrafft. Anders als in den vergangenen Jahren, als alle 100.000 Turnfestteilnehmer beim Straßenumzug mitliefen, durften sich diesmal nur ausgewählte Gruppen präsentieren. Es half nichts, der Umzug dauerte dennoch zu lange, wurde viel zu oft angehalten und wirkte am Ende genau so, wie es die Veranstalter eigentlich gar nicht wollten: altbacken.
An den nächsten Tagen waren in den Messehallen am Funkturm, dem Zentrum des Turnfestes, frustrierte Stimmen zu vernehmen. Fragte man Teilnehmer, ob es ihnen denn bis jetzt gefalle in Berlin, antworteten die meisten mit einem begeisterten Ja. Fragte man nach, ob es denn auch etwas gebe, was nicht so toll gelaufen sei beim Turnfest, schimpften viele über den Umzug am Eröffnungstag. So als sei es ihnen peinlich, dass sich das deutsche Turnen auf derart unprofessionelle Weise präsentiert hatte.
Erst beim Gang über das Messegelände fällt auf, dass die Turnvereine zu so etwas wie der Talentschmiede im Showbereich geworden sind. In den Ausstellungshallen sind jede Menge Bühnen aufgebaut. Überall ist Musik zu hören. Dazu bewegen sich seilhüpfende, tanzende, Gymnastik treibende, bunt gewandete Gruppen. Die Turnbewegung ist zu einer Tanzbewegung geworden.
Das sieht nicht immer gut aus. Denn nicht alle, die beim Turnfest mittanzen, können sich gut zu Musik bewegen. Auch sind die Hits, die durch die Hallen dröhnen, nicht jedermanns Sache. Doch es gibt immer wieder auch wahre Leckerbissen zu sehen. Die besten Gruppen werden am Ende dann auch mit Medaillen und Urkunden in ihre Heimatorte zurückkehren. Denn die Shows werden bewertet.
Auch die klassischen Turner an Reck und Stufenbarren haben erkannt, dass sie sich ausstellen müssen, um noch als zeitgemäß wahrgenommen zu werden. Die Geräteturnwerkstatt, die in einer der Hallen aufgebaut wurde, ist ein Schaufenster des klassischen Turnsports. Hier können sich Vereine anmelden und sich unter Anleitung einiger der besten Turntrainer, die hierzulande arbeiten, einige Tricks und Neuheiten in der Trainingslehre zeigen lassen. Die Übungsleiter aus den kleinen Clubs kommen mit ihren besten Turnern, und das vorbeiflanierende Publikum bleibt nicht selten erstaunt stehen, um die Leichtigkeit zu bewundern, mit der ein 13-jähriger Junge Riesenfelge um Riesenfelge am Reck turnt.
Dass all das gar nicht so einfach ist, dass viele nie so werden turnen können wie der Nachwuchs in der Geräteturnwerkstatt, das kann sich vorstellen, wer die Hallen aufsucht, in der die Übungen für das Geräteturnabzeichen abgenommen werden. Da wirkt bisweilen der einfachste Bocksprung alles andere als elegant. Aber kleinen Jungen und Mädchen, die ihre ersten Übungen vor Wertungsrichtern absolvieren, träumen vielleicht auch von einem Auftritt vor großem Publikum. Die Körperbeherrschung ist nicht mehr das einzige Ziel der Turner, das Vorzeigen des Könnens in einem Showrahmen die Motivation vieler Nachwuchssportler.
Die große Turnfestgala, die am Sonntag in der Deutschlandhalle Premiere hatte, wurde von dem ehemaligen Regisseur des Cirque de Soleil, Marc Bogaerts, zusammengestellt. Sie symbolisiert die Entwicklung des Turnsports hin zu einer zirzensischen Showkultur. „Alle Menschen sehen in MTV oder anderen Musikkanälen ständig Choreografien, sie wollen das imitieren. Beim Turnerbund gibt es jede Menge Menschen, die das auch können“, sagt Bogaerts. Er schwärmt von den Talenten, die es in Deutschland in dieser Hinsicht gibt. Für ihn ist Turnen alles andere als altbacken.