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Archiv-Artikel

Der Zeitzeuge, der zu spät kommt

Hans Barnea, Sohn eines jüdischen Holzhändlers aus Schlesien, lässt das Schicksal seine Biografie formen. Es führt ihn über Palästina als britischen Soldaten in deutsche Gefangenschaft während des Krieges und wieder zurück nach Israel. Nur einmal nimmt er das Heft seines Lebens in die Hand: als er vor vierzig Jahren zurückkam nach Deutschland, nach Berlin

„Vergesst es“, sagt Barnea, „ich krieg das Erzählen meiner Geschichte nicht hin“„Das weiß ich nicht mehr“, sagt Barnea, „Gefühle kann man nicht festhalten“ „Die SPD“, sagt Barnea, „hat alle sozialen Grundsätze verraten.“ Er bleibt in der Partei

VON WALTRAUD SCHWAB

Keine Tragödien, kein richtiges Leben im falschen – nach so was will Hans Barnea nicht gefragt werden. Er ist der Zeitzeuge, dessen Erinnerungen nicht zum Erinnerungskult passen. Sie hinken hinterher, wie sein Leben, das – egal wie humpelnd – sich auch immer weiter zog. Bis heute ist ihm das Erstaunen anzumerken, mit dem er die Zufälle wahrnimmt, die seine Biografie formen. „Keine Tragödien“, sagt er noch einmal. Es stimmt und stimmt auch nicht.

Schon oft wurde Barnea gefragt, ob er nicht seine Geschichte erzählen kann. „Ich kann es nicht.“ Zum 8. Mai haben ihn seine Freunde aus der Kreuzberger SPD gebeten, es trotzdem zu tun. Er ist schließlich ein Zeitzeuge. Hingesetzt habe er sich, wollte sein Leben in einen Plan zwängen, angefangen mit: „Geboren bin ich am 14. Mai 1919 in Hindenburg, Oberschlesien. Heute heißt die Stadt Zabrze. Grau war sie. Mit Industrie und Kohlestaub. Sie ist bis dato nicht schöner geworden.“

Weiter ist Hans Barnea nicht gekommen. Es gelinge ihm eben nicht, sich auf den Lauf der Dinge zu konzentrieren, sie in eine Chronologie zu fügen. „Vergesst es“, hat er zu den alten Sozialdemokraten gesagt, „ich krieg’ das nicht hin.“ Es ist seine Distanz zu sich selbst, die seinem Erinnern keine Regeln gibt. Kein Satz von ihm fängt mit „damals“ an.

Barnea muss man Fragen stellen. Ihm Stichworte reichen, die er bereitwillig aufnimmt. Was fällt Ihnen zu Sehnsucht ein? „Da muss ich passen.“ Was zu Glück? „Das genieße ich, wenn ich es habe.“ Und was fällt Ihnen zu Deutschland ein? Da, endlich, entfaltet sich ein Bild vor seinem inneren Auge und er sieht sich als Jungen, der einmal alleine mit dem Zug zu seiner älteren Schwester nach Berlin fahren musste. Am Fenster ist er gesessen und ließ die weiche schlesische und brandenburgische Landschaft an sich vorbeirauschen. Hin und zurück. Als er am Ende wieder in Hindenburg ankommt, holt ihn niemand vom Bahnhof ab. Da nimmt er sich, ganz großmännisch, eine Kutsche und lässt sich vor die Haustür fahren, obwohl er doch nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt in der Bahnhofstraße wohnt. „Überlegen Sie, zehn Jahre war ich da alt. Ich hätte doch zu Fuß gehen können.“

Eigentlich war dem einzigen Sohn des jüdischen Holzhändlers aus Hindenburg ein Leben vorgezeichnet, das ihn in die großbürgerliche Spur des väterlichen Unternehmens hätte lenken sollen. Er kann von sich nicht behaupten, dass ihm die dazu passende Attitüde nicht schon zu Eigen war. Eine Mischung aus Arroganz, Stolz, Überheblichkeit. Bald aber ist das nur noch die halbe Wahrheit.

Weil Barnea, kaum elfjährig, aus der Bahn gekickt wird, wandelt er sich zum Beobachter seiner selbst und bleibt es. Solche Leute sind unnahbar. „Ich konnte nie mitschwofen. Das war mir fremd.“ Zwischen ihm und der Umwelt ist diese Fremdheit geblieben. Lange schon hat sie nichts mehr mit Unfreundlichkeit, Arroganz gar, zu tun, obwohl er auf die Frage: „Was fällt Ihnen zu Familie ein?“, nur antworten kann: „Ich bin kein Familienmensch.“ Wie alt sein Sohn ist, der in Kirjat Bialik in Israel lebt, weiß er nicht. Er telefoniert nur selten mit ihm. Enkel? Urenkel? Er hat welche. Er kennt sie nicht.

Der Schwarze Freitag im Herbst 1929 war der Wendepunkt in seinem Leben. Das zumindest glaubt Barnea. Danach ging es mit dem Unternehmen seines Vaters bergab. Ihm aber ging in der Folge das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, verloren. Zwei Jahre nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zog der Holzhändler mit Frau, jüngerer Tochter und dem damals 12-jährigen Hans zu seiner ältesten Tochter nach Berlin. Sie war mit einem Zionisten verheiratet, dessen Träume in Palästina verwirklicht sein wollten. Im April 1933 konnte er ausreisen, im September zog der Rest der Familie bis auf die jüngere Tochter, die Lieblingsschwester Barneas, nach. Sie heiratete in Berlin einen Holländer, bekam den holländischen Pass und fühlte sich sicher.

In Palästina hat Barnea keine Lust mehr, zur Schule zu gehen. Er trägt Zeitungen aus, arbeitet als Möbeltischler, verdingt sich ohne Herzblut in einem Kibbuz. „Dann kam der Krieg, dann die Gefangenschaft. Erst dann bin ich erwachsen gewesen, ich sage Ihnen das ganz ehrlich.“

Als England in den Krieg tritt, meldet sich Barnea zur britischen Armee. In Ägypten macht er seinen Rekrutendienst. Als Rommel anrückt, wird seine Truppe, da noch keine Kampfeinheit, nach Griechenland evakuiert. Die griechische Landschaft, geschunden von deutschen Beschuss, sieht er an sich vorbeiziehen. Dann war der 29. April 1941: Seine Einheit muss sich ergeben. Barnea, der Jude, kommt in deutsche Gefangenschaft.

Die Deutschen versuchten die Soldaten aus Palästina von den britischen zu trennen. „Das wäre unser Ende gewesen. Der General wollte schon zustimmen, aber die Unteroffiziere konnten es verhindern.“ Das Auffanglager für Kriegsgefangene war in Korinth. „Ausgerechnet in so einer schönen Gegend.“ Die Läuse sollen mausgroß gewesen sein. „Dazu Wassersuppe und Brot. Der letzte Dreck.“ Dann in Thessaloniki unter freiem Himmel. Dann irgendwo in Jugoslawien. Dort nehmen ihm die Deutschen den silbernen Bleistift weg, den er von seiner Lieblingsschwester hatte. „Das hab’ ich denen nie verziehen.“ Fast verhungert wären sie auf der weiteren Odyssee im Viehwaggon bis zum Stammlager VIII b in Lamsdorf in Oberschlesien, gar nicht weit von Hindenburg, wo er aufgewachsen ist. Dort hat er die Jahre bis zum Ende des Krieges verbracht.

Die Internierten werden vom britischen Roten Kreuz mit Essenspaketen unterstützt. Einmal schickt ihm auch seine Schwester aus Holland ein Päckchen. „Ich wusste nicht, dass sie selbst schon so gefährdet war und kaum etwas hatte.“ Ihr Mann und sie kommen nach dem Einmarsch der Deutschen über Westerbork nach Bergen-Belsen. „Ich bin wahrscheinlich der einzige Jude in deutscher Kriegsgefangenschaft, der mit seiner Schwester im KZ korrespondierte.“ Die Postkarten hat er ans Jüdische Museum gegeben. Sein Schwager verhungert im KZ, seine Schwester überlebt, stirbt aber in den 60er-Jahren an den Folgen der Internierung. „Nie hat sie ein Wort darüber erzählt.“

„Warum hatte ich so ein Glück, dass ich in Gefangenschaft kam?“ Die Gefangenen organisieren Schulunterricht im Lager. „Wir hatten ja alle Sorten gebildete Leute da.“ Barnea ist Schüler. Englisch bringt er sich selber bei. Er will das Abitur nachmachen. Im Lager passierten allerhand komische Sachen, meint er. Einmal fragt ihn ein deutscher Bewacher, ob seine Mutter groß, sein Vater klein war und ob er ein großes Holzgeschäft hatte. „Ja“, meinte Barnea. „Ich hab’ bei deinem Vater gearbeitet“, sagte der Soldat.

Und noch eine Geschichte: Als ihm die Brille kaputtgeht, schickt ihn der Lagerkommandant mit Bewachung nach Hindenburg ins Lazarett. Barnea besticht den Bewacher mit britischen Zigaretten, damit er durch die Bahnhofsstraße, wo er einst wohnte, marschiere. Was war das für ein Gefühl, da vorbeizukommen? „Das weiß ich nicht mehr. Gefühle kann man nicht festhalten.“

Nach dem Krieg schwimmt Barnea wieder im Strom. Er landet in Liverpool, dann auf einem Schiff, dann in Israel. Er wird Pfleger in einem Krankenhaus für Geisteskranke, heiratet, wird Vater, lässt sich nach zwei Jahren in die Personalabteilung versetzen und übernimmt 1954 die Leitung einer Niederlassung der Sozialversicherung.

Je länger er in Israel lebt, desto deutlicher spürt er, dass es einen Ort gibt, zu dem es ihn hinzieht: Berlin. Seine Frau will nicht. Er bleibt. 1965 kommt es dennoch zur Scheidung. Drei Monate später landet er in Berlin. Er hat kein Geld und kennt niemanden. „Nur einmal im Leben hab’ ich eine Entscheidung getroffen. Diese. Es war die richtige.“ Was fällt Ihnen zu Heimat ein? „Vierzig Jahre Berlin.“

Barnea ist aus der Zeit herausgefallen. Dem Geiste nach Flaneur und Bohemien. Dem Wesen nach einer, der tut. Der Haltung nach einer, der aus seinen Beobachtungen für sich keinen Mehrwert ziehen kann. Er ist ein Kafka ohne Gewalt über die Sprache. Schnell findet er in Berlin eine Arbeit auf dem Tempelhofer Versorgungsamt. Er wird Beamter, baut am deutschen Beamtentum mit. Gewissenhaft ist er. Auf seinem Schreibtisch liegt alles am Platz. Akribie, Pingeligkeit, Rigorosität – so was hängt ihm an. „Ich war es auch. Erst im Alter bin ich weicher geworden.“ Dass er gleichzeitig ein Charmeur ist, das will nicht passen.

Kaum in Berlin ist Barnea in die SPD eingetreten. Willy Brandt war damals Bürgermeister. Im Herzen ist Barnea ein Sozialdemokrat alter Couleur. Einer, der nicht zu spät kommen will, wenn Zivilcourage es verlangt. Dabei weiß er, dass sein Gang mittlerweile stolpernd und unsicher geworden ist, wie der seiner Partei. „Sie hat so ziemlich alle sozialen Grundsätze verraten.“ Er bleibt dennoch dabei. Da sind Menschen, mit denen kann ich noch reden.

Barnea sammelt die Splitter seines Lebens ein. Sie wollen nicht zusammenpassen. Er ist ein Zeitzeuge, der zu spät kommt. Heute jährt sich seine Rückkehr nach Deutschland zum vierzigsten Mal. Er liebt Berlin.