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Archiv-Artikel

Geräusche, die die Welt bewegen

KOMPOSITIONEN Im Stattbad Wedding präsentieren Studierende der Sound Studies ihre Abschlussarbeiten. Verschiedene Installationen und Collagen präsentieren den Klang in seinen alltäglichen Dimensionen

VON JULIAN JOCHMARING

Im Jahr 2034 wird in einem Labor des Automobilkonzerns Audi eine Technologie entwickelt, mit der sich die Schwerkraft überwinden lässt. Die Forscher gründen daraufhin das Unternehmen „Infra“ und setzen ihre Entwicklung erfolgreich im Rennsportbereich ein.

Diese fiktive Geschichte von Infra und der Antigravitationstechnologie ist Teil einer Klanginstallation von Marius Braun im Stattbad Wedding. Dort präsentieren Studierende des Studiengangs Sound Studies an der Universität der Künste noch bis zum 30. März ihre Masterarbeiten. Brauns Installation besteht aus vier im Quadrat angeordneten Lautsprechern. Über Tasten auf dem Boden können Klangstationen ausgewählt werden. Die Stationen sind einem Besuch in der Unternehmenszentrale nachempfunden: von dem von sphärischen Synthesizerklängen untermalten Eintritt in den Showroom bis zu einer von Basseinschlägen begleiteten Probefahrt.

Brauns Arbeit ist sowohl atmosphärisch erfahrbare Installation als auch ein Beitrag zu einem aktuell immer relevanteren Thema, denn „Sound Branding“, die Gestaltung der akustischen Identität eines Produkts, ist heute elementarer Bestandteil jedes Marketingkonzepts. Auch Sebastian Schäfer hat sich mit akustischer Markenkommunikation auseinandergesetzt und mit „soundidents.info“ das weltweit erste Archiv für sogenannte Sound Logos geschaffen. Darin finden sich alltägliche Mikrokompositionen wie Brian Enos Startmelodie von Windows 95 oder Werbejingles. In der Ausstellung lässt sich das interaktive Archiv durchstöbern.

Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft ist einer der wesentlichen Bestandteile des seit 2006 an der Universität der Künste angebotenen Studiengangs. Die Sound Studies unterscheiden sich von der Musikwissenschaft durch ihren interdisziplinären Ansatz, der Klang in seinen alltäglichen Dimensionen untersucht. Gestalterische und technische Fragen werden ebenso behandelt wie Themen aus dem Bereich der Architektur, der Anthropologie oder der Philosophie. Neben Komponisten der Neuen Musik wie John Cage kann der Kanadier Murray Raymond Schafer als inoffizieller Gründervater der Sound Studies gelten. Schafer entwickelte in den siebziger Jahren den Begriff des „Soundscape“, von der Landschaft aus den Klängen und Geräuschen, die uns täglich umgeben.

In dieser Tradition steht die Arbeit von Johannes Kiersch. Kiersch hat Collagen mit Geräuschen aus Orten in Ostsibirien erstellt. Der Ferne Osten erklingt dort als Raum des ständigen ökonomischen und kulturellen Austauschs. Schiffe laufen mit lauten Sirenenklängen in den Hafen von Wladiwostok ein, Züge rattern die Baikal-Amur-Magistrale entlang, und auf einem Markt mischen sich chinesische und russische Stimmen.

Einen Raum weiter wird das Soundscape-Konzept in die digitale (All-)Gegenwart überführt. Der Mikrobloggingdienst Twitter (englisch „zwitschern“) trägt das Akustische schon in Namen – blieb darüber hinaus aber bis jetzt stumm. Im „Tweetscape“-Projekt von Anselm Venezian Nehls rechnet nun ein komplexer Algorithmus jede Twitter-Aktion in Echtzeit in einen Klang um. Jedes Thema, dem ein „Hashtag“ zugewiesen wird, löst ein eigenes Geräusch aus. So wird aus dem Netzwerk eine sich ständig verändernde Komposition. Am Samstagabend dominieren die Themen „Gauck“ und „FC Bayern“ das Tweetgeschehen, das Klangbild ist eher dumpf und disharmonisch.

Die Tweetscapes sind nicht nur ästhetische Spielerei, sondern auch eine wissenschaftliche Sonifikation – das akustische Pendant zur Visualisierung. So lassen sich Erkenntnisse über das Netzwerk gewinnen, die mit anderen Methoden der Datenaufbereitung verschlossen blieben. Seit vergangenem Herbst laufen die Tweetscapes regelmäßig im Nachtprogramm von Deutschlandradio Kultur.

Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs bleibt die Arbeit auch intuitiv nachvollziehbar – ein Balanceakt, der nicht allen präsentierten Arbeiten gelingt. Erklärende Texte wären an einigen Stellen hilfreich. Trotzdem bildet die Ausstellung die interdisziplinäre Vielfalt der Sound Studies ab, ohne dabei beliebig zu wirken. Das Stattbad Wedding mit seinen zahlreichen Nischen erweist sich da einmal mehr als einer der spannendsten Berliner Ausstellungsorte, insbesondere für Installationskunst.

■ Bis 30. März, Stattbad Wedding, Gerichtstraße 65. Täglich 15 bis 20 Uhr, Eintritt frei