: Auf Identitätssuche
Das italienische Nationalteam baut zunehmend auf im Ausland beschäftigte Profis. Das Nations-League-Duell gegen Deutschland ist nun ein willkommener Härtetest
Von Tom Mustroph
Die Squadra Azzurra befindet sich im Aufbruch. Wieder einmal. Nach dem beschämenden Achtelfinal-Aus bei der EM gegen die Schweiz rappelte sich der einstige Weltmeister wieder auf. Als Genesungsbad erwies sich ausgerechnet die zuvor eher verlachte Nations League. Besonders die Auswärtserfolge in Frankreich und Belgien ließen den Glauben an eigene Stärken wieder erwachen.
„Das Team hat Charakter gezeigt und sich von dem frühen Rückstand nicht irritieren lassen. Wir hätten untergehen können und würden jetzt als Verlierer auf die Spiele gucken“, blickte die Gazzetta dello Sport auf das 3:1 in Paris zurück. Jetzt aber hätte die Elf wieder festen Boden unter den Füßen, meinte das rosa Sportblatt hoffnungsvoll und attestierte Widerstandskraft, Charakter und Dominanz.
Das waren längere Zeit keine Attribute, die im Kontext der Nationalmannschaft ausgesprochen wurden. Grund dafür ist einerseits die stabilisierte Defensive um Alessandro Bastoni von Meister Inter Mailand.
Das Mittelfeld hat zudem an Kreativität gewonnen, vor allem dank des in der Premier League zu neuer Klasse gereiften Sandro Tonali.
Überhaupt spielt die Premier League eine überraschend große Rolle in der aktuellen Auswahl. Der talentierte Außenverteidiger Riccardo Calafiori spielt bei Arsenal, einen festen Platz hat mittlerweile auch der defensive Mittelfeldspieler Destiny Udogie (Tottenham). Von einem Team der Italienflüchtlinge und Migranten schrieb daher schon die Tageszeitung La Repubblica.
In der Vergangenheit standen italienische Nationalspieler vor allem in der Serie A unter Vertrag. Es gab die Blöcke von Juventus, dem AC Mailand und Inter Mailand. All das ist Vergangenheit. In der Startelf dürfte von Juventus allenfalls Außenbahnspieler Cambiaso Berücksichtigung finden. Vom AC Mailand wurde nicht einmal ein Spieler berufen. Beide Klubs stecken in tiefen Krisen. Inter Mailand und der SSC Neapel sind an die Stelle getreten.
Und auch Profis kleinerer Klubs erhalten eine Chance, wie etwa Moise Kean (Florenz) als vermutlich einzige Spitze. Am wichtigsten allerdings sind die im Ausland tätigen Akteure. Gianluigi Donnarumma (PSG) im Tor hat jüngst wieder seine Weltklasse bestätigt.
Dennoch ist der Optimismus verhalten. Stürmer von Weltklasseniveau hat Trainer Luciano Spalletti nicht zur Verfügung, wie etwa Vorgänger Marcello Lippi sie in Form von Alessandro Del Piero oder Filippo Inzaghi bei der WM 2006 im Kader hatte. Gegen Deutschland muss Spalletti auch noch auf Mateo Retegui von Atalanta Bergamo verzichten, der derzeit mit 22 Treffern in 27 Partien der Toptorjäger der Serie A ist. Eine Oberschenkelblessur macht ihm zu sehr zu schaffen, weshalb er bereits von der Auswahl abgereist ist.
„Wir suchen noch unsere Identität“, sagte Spalletti vorsichtig. Und die Gazzetta urteilte: Gradmesser für die Qualität Italiens seien die beiden Begegnungen mit Deutschland.
Als großen Verlierer kann man vorab schon Federico Chiesa bezeichnen. Der Flügelstürmer war der wichtigste Mann beim vorherigen EM-Triumph Italiens. Jetzt ist er gar nicht mehr dabei. Das zeigt auch: Nicht jeder England-Legionär wird als Verstärkung betrachtet.
Coach Spalletti hingegen, seit September 2023 im Amt, kämpft um sein Vermächtnis. Kann er das Team, das zuletzt erratisch gute und schlechte Leistungen aneinanderreihte, zu mehr Konstanz führen? Die Erklärungen, die er nach dem EM-Aus hatte, darf er im Misserfolgsfalle nicht mehr anführen. Da hatte er gesunkene Trainingsintensität beim damals schon feststehenden Meister Inter Mailand beklagt. Jetzt bereitete sich sein Team ausgerechnet auf Inters Trainungsplätzen vor. Von Inter-Coach Inzaghi will er sich ja das Beste abgeguckt haben.
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