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Archiv-Artikel

Neonazis im Trend

AUS BERLIN ASTRID GEISLER

Im rechtsextremen Lager in der Bundesrepublik vollzieht sich eine Machtverschiebung zugunsten besonders radikaler Gruppierungen. Das geht aus dem jüngsten Verfassungsschutzbericht hervor, den Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gestern vorlegte. Allein im vergangenen Jahr stieg demnach die Zahl der Neonazis um mehr als 25 Prozent auf 3.800 Mitglieder – 2002 hatte der Verfassungsschutz noch 2.600 Neonazis gezählt. Mit der NPD verzeichnete zudem auch die radikalste der Parteien am rechten Rand erstmals seit Jahren wieder – zumindest geringen – Zulauf. Nach dem spektakulären Wahlerfolg in Sachsen im vergangenen Herbst stieg ihre Mitgliederzahl um 300 auf 5.300 Aktive, während REP und DVU weiter schrumpften.

Dieser Trend müsse „für uns alle eine Warnung sein“, sagte Schily. Das Bündnisprojekt der „Volksfront von rechts“ habe die NPD zum „Mittelpunkt für Einigungsbemühungen“ im rechtsextremen Lager gemacht und ihr so einen „Bedeutungszuwachs“ beschert. „Hochgefährlich“ seien auch die „verstärkten“ Versuche aus NPD- und Neonazi-Kreisen, Jugendliche mit Werbeaktionen im Umfeld von Schulen sowie mit einschlägiger Musik zu ködern.

Diese Sorge stützt auch der anhaltende Boom der Rechtsrockszene: Die Verfassungsschützer zählten im vergangenen Jahr sowohl mehr Skinhead-Bands als auch mehr Konzerte. Kein Wunder, dass laut dem Bericht ebenfalls die Zahl der Unternehmen stieg, die am Handel mit Hassmusik und einschlägigen Nazi-Accessoires verdienen wollen.

Wer neue Belege für die von Betroffenen seit langem beklagte besondere Brisanz der Lage in einigen ostdeutschen Regionen sucht, findet sie in dem 289-Seiten-Wälzer. Dem Verfassungsschutzbericht zufolge fand nicht nur deutlich mehr als die Hälfte der Rechtsrockkonzerte im Osten statt, auch die gewaltbereiten Skinheads sind dort weiterhin überrepräsentiert: Obwohl in Ostdeutschland nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung lebt, tummelten sich dort zuletzt 45 Prozent der Glatzköpfe. Besonders betroffen: der Großraum Berlin, Teile von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.

An Gegenkonzepten hatte Schily wie Verfassungsschutzchef Heinz Fromm gestern außer den bekannten Floskeln von der notwendigen „gemeinsamen Anstrengung aller Mitglieder der Gesellschaft“ und der besonderen Verantwortung von Elternhaus und Schule indes wenig zu bieten. Ein NPD-Verbotsverfahren, wie zu Jahresbeginn wieder mehrfach vorgeschlagen, ist laut Schily kein Thema mehr – schließlich verlange das Bundesverfassungsgericht dafür die Abschaltung der V-Leute, das aber sei politisch ausgeschlossen.

Auf einige Ratlosigkeit in den Sicherheitsbehörden deuten auch die Kapitel über den islamischen Extremismus und Terrorismus hin – der laut Schily gegenwärtig „größten Bedrohung“ der inneren Sicherheit. Unser Land sei „Teil eines weltweiten terroristischen Gefahrenraumes“, warnte der Minister. Darauf deute unter anderem die „abgewendete Gefahr eines Anschlags auf den irakischen Ministerpräsidenten“ in Berlin hin. Über die Organisationsstrukturen mutmaßlicher islamistischer „Gefährder“ in Deutschland liefert der Verfassungsschutzbericht allerdings kaum Konkretes. So sagt die gestiegene Gesamtzahl von Anhängern islamistischer Organisationen nichts über die Entwicklung der zwei wohl bedrohlichsten Netzwerke – al-Qaida und Ansar al-Islam. Denn zu ihnen notiert der Verfassungsschutz nur: „keine gesicherten Zahlen“.