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Schlagabtausch der Denker

Die Reichen besteuern oder mehr Bildung für alle: Der Ökonom Thomas Piketty und der Philosoph Michael J. Sandel diskutieren Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen. Ihnen lesend zu folgen ist ein Gewinn – wenn auch manche Ideen irritieren

Von Michael Wolf

Man sollte nicht zu viel erwarten, wenn man zwei Intellektuelle in eine inszenierte Diskussion verwickelt, zumal wenn es sich um Deutsche handelt. Im Vergleich etwa zu den USA, wo es an jeder High School Debattierklubs gibt, ist die Kultur der mündlichen Argumentation hierzulande schwach ausgeprägt.

In anderen intellektuellen Kulturen sieht die Sache freilich ganz anders aus, weshalb eine verschriftlichte Diskussion zwischen Thomas Piketty und Michael J. Sandel einiges verspricht: Ein Franzose und ein US-Amerikaner, ein Ökonom und ein Philosoph treffen da aufeinander. Stars sind sie beide. Piketty, Jahrgang 1971, wurde vor gut zehn Jahren mit der englischen Übersetzung von „Le Capital au XXIe siècle“ („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) schlagartig berühmt. Die wichtigste These des Buchs: Der Kapitalismus tendiert, je weniger reguliert, umso stärker, zur Vermögenskonzentration, wodurch die Entwicklung der Volkswirtschaft gehemmt und das Funktionieren demokratischer Verfahren behindert werde. Was viele Linke schon immer ahnten, fand durch Piketty eine ökonomisch versierte Bestätigung. Das 800 Seiten starke Fachbuch avancierte weltweit zum Bestseller. Seither gehört sein Autor zu den bekanntesten Gesichtern einer linken Wirtschaftswissenschaft, die nicht nur rechnen und beschreiben will, sondern ihre Expertise einsetzt, um politische Veränderungen herbeizuführen.

Sein Gegenüber, der 71-jährige Michael J. Sandel, erlangte weltweiten Ruhm, als er Videos seiner an der Harvard University schon lange legendären Vorlesung zu Gerechtigkeit online stellen ließ. Auf Youtube zählt die erste Folge heute mehr als 39 Millionen Aufrufe. Charismatisch und zugleich nahbar tritt Sandel auf, erzählt Geschichten, scherzt mit seinen Studenten, nimmt sie jedoch immer ernst. Ein Entertainer des Denkens steht da auf dem Podium, doch auch ein Missionar. Sandel will dozieren, argumentieren, recht bekommen, aber auch Wirkungen zeitigen, er will seine Studenten und Leser prägen.

In der akademischen Philosophie machte er erstmals auf sich aufmerksam, als er Anfang der achtziger Jahre auf John Rawls Theo­rie der Gerechtigkeit antwortete, die ihm zu abgehoben von den realen sozialen Verhältnissen schien. 1996 lieferte er mit „Das Unbehagen in der Demokratie“ selbst einen Klassiker der politischen Theo­rie. In dem jüngst in aktualisierter Fassung neu herausge­brachten Buch beschreibt er den Aufstieg des Finanzkapitalismus in den USA und damit zusammenhängend die ­fortschreitende Ent­machtung der Zivilgesellschaft und des politischen Subjekts.

Thomas Piketty, Michael J. Sandel: „Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“. Aus dem Englischen von Stefan Lorenzer. C. H. Beck, München 2025, 158 Seiten, 20 Euro

Gleichheit und Gerechtigkeit sind also seit jeher ihrer beider Themen – auch im Mai 2024, als Sandel und Piketty an der Paris School of Economics aufeinandertrafen. Zu Beginn des Bandes „Die Kämpfe der Zukunft“, der ihre Diskussion dokumentiert, definieren sie gemeinsam drei Probleme, die aus monetärer Ungleichheit resultieren: Arme Menschen können sich erstens viel weniger leisten, sie haben zweitens geringeren politischen Einfluss und sie geraten drittens in Abhängigkeit von reichen Menschen, weil diese sich die Arbeits- und Lebenszeit Ärmerer kaufen können. Die Frage nach der Ungleichheit ist für Sandel und Piketty damit eine, die Antworten sowohl aus der Makroökonomie wie aus Ethik und Sozialpsychologie motiviert.

Wie aber lässt sich Abhilfe schaffen? Piketty setzt auf klassische Umverteilung und verspricht sich viel von einer progressiven Besteuerung. Überhaupt ist interessant, mit wie viel Emphase der Franzose für die Sozialdemokratie wirbt. Der Begriff ist im Deutschen so stark mit der Partei von Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Saskia Esken verbunden, dass man Mühe hat, ihm in seiner Begeisterung zu folgen, geschweige denn zu glauben, dass mit den alten ­Instrumenten Großes zu erreichen wäre. Sandel hingegen setzt einen anderen Akzent. Für lohnenswerter als eine Angleichung der finanziellen Mittel für alle hält er eine Dekommodifizierung der Wirtschaft. Den Bildungs- und Gesundheitssektor möchte er ganz dem Markt entziehen und seine Dienstleistungen und Güter allen Bürgern in gleicher Weise zur Verfügung stellen.

Eine radikale Idee, zumal für einen US-Amerikaner, der in einer Gesellschaft lebt, in der viele eine staatliche Krankenversicherung als sozialistisches Teufelszeug ver­dammen. Sandels Vorschlag führt das Gespräch ironischerweise aber hin zu einem Exkurs über Möglichkeiten, den Anteil ärmerer Studenten an Hochschulen wie Harvard oder Stanford zu erhöhen. Man ist peinlich berührt, wenn sich diese zwei hochreflektierten Professoren von Eliteuniversitäten über viele Seiten gegenseitig darin bestärken, dass sie die Auswahlprozesse von Eliteuniversitäten ganz fürchterlich finden. Als wäre es wirklich so, dass man dort 100 mal mehr und ­besser lernen würde, weshalb es ganz wichtig wäre, mehr arme Schlucker in den Genuss dieser Exzellenz­bildung kommen zu lassen. Als wäre nicht im Gegenteil die Existenz von Eliteuniversitäten an sich das Problem. Und als beruhte das Renommee solcher Institutionen nicht vor allem auf Marketing.

Immerhin, dieser Exkurs leitet die Leserschaft sanft auf eine Meta­ebene, von der aus man die beiden als Repräsentanten ihrer jeweiligen akademischen und sozialen Milieus beobachten kann. Die Differenz zwischen US-amerikanischer und europäischer Progressivität fällt so immer wieder auf. Links, das ist kein Begriff, der jenseits des Atlantiks viel Verwendung findet. Und selbst wenn Sandel Forderungen aufstellt, die in der hiesigen Parteienlandschaft weit jenseits der Mitte zu verorten wären, kommen sie aus einer ganz anderen Tradition. So steht im Zentrum der politischen Philosophie Sandels der Begriff der „Selbstverwaltung“ (self-governance). Gemeint ist damit ein gesellschaftliches Ideal, das es dem Individuum oder einer Gruppe ermöglicht, frei zu agieren und selbst Regeln für das eigene Handeln zu formulieren. Progressiv, also im Wortsinne fortschrittlich, ist dieses Ziel eigentlich nicht einmal im US-amerikanischen Kontext, weil es einem historischen Zustand hinterherläuft, der im 19. Jahrhundert mit der Kon­zentration der Wirtschaft verlorenging.

Wohin mit den Armen? Zeltsiedlung in Grants Pass, Oregon Foto: Mason Trinca/NYT/Redux/laif

Für eine europäische Linke, aus deren Tradition Piketty stammt, ist dieser Ansatz verwirrend, weil er auch offen für eine Ablehnung des Staates ist und in erster Linie die Autonomie kleiner Einheiten zu bewahren versucht. Diese Differenz tritt am Ende des Gesprächs zutage, als Sandel auch über Identität, gar über Identitätspolitik sprechen will. Er ist der Ansicht, dass die rechten Bewegungen unserer Tage nicht nur Zulauf erhalten, weil Arbeiter ihre Jobs in der Industrie verloren haben, sondern weil sie von der gebildeteren Minderheit mit Verachtung gestraft worden seien. Es geht ihm also nicht nur um Geld, sondern auch um Respekt und Anerkennung.

Nur mit einigem Widerstand lässt sich der orthodoxe Linke Piketty auf diese Ansicht ein, lieber wäre ihm offenbar eine rein ökonomische Betrachtung gewesen. Warum? Weil gerade er all die Mitte-links-Projekte kritisiert, die ökonomische Macht gegen kulturelle Teilhabe eingetauscht haben, die zugleich Minderheitenrechte gestärkt und den Niedriglohnsektor ausgebaut haben und die nun im Ruf stehen, sich nicht mehr für die Arbeiterschaft zu interessieren. Für Linke wie ihn ist Identitätspolitik keine Lösung, sondern Teil des Problems.

Wie aber lässt sich ihm zufolge mehr Gleichheit bewerkstelligen? Die Antwort fällt überraschend aus, weil deutliche Parallelen ausgerechnet zu Donald Trumps Politik erkennbar sind. Auch wenn er ganz andere Ziele verfolgt (gesellschaftliche wie globale Umverteilung) als der US-Präsident, so sind die von Piketty einige Monate vor der US-Wahl vorgeschlagenen Methoden sehr ähnlich: Zölle, Protek­tionismus, souveräner Nationalstaat. Die Hoffnung auf internationale Initiativen für mehr Gleichheit, etwa globale Mindeststeuersätze für Unternehmen, möchte er noch nicht aufgeben, und doch: Es ist die Nation, an die Piketty seine Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit hängt. Auch das lernt man hier über die Linken der Gegenwart: All die Krisen der letzten Jahre – Corona, der Krieg, die Migration und die Inflation – haben sie bescheiden und scheu werden lassen. Genau wie ihre ärgsten Gegner träumen sie nun von einer Heimat.

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