Janusköpfige Eröffnung

SOMMERFESTIVAL Auf Kampnagel widmen sich derzeit Tanz- und Theaterperformances, Installationen, Vorträge und Konzerte dem Thema „Kaufen“. Zu Beginn gab es erst Krokodils-, dann Freudentränen

Choreograf Jochen Roller errechnet einen Selbstausbeutungsfaktor von insgesamt 0,5

Jochen Roller trägt eine verwaschene Trainingshose in grün, ein verwaschenes Hemd mit Schweißflecken, und sein Blick in den Saal ist traurig. Jochen Roller ist frei schaffender Tänzer. Lange hatte er als Tänzer keine Arbeit und musste jobben, um zu überleben. Über diese Jobs hat Roller ein Stück gemacht, eine Mischung aus Tanzperformance und Kabarett. An jenem Donnerstagabend steht er auf einer Bühne in der Handelskammer und rechnet vor einem Publikum mit vielen Anzugträgern unter anderem seinen persönlichen „Selbstausbeutungsfaktor“ aus: sechs Stunden Jobben in einer Plattenfirma ermöglichen drei Stunden Proben. Macht einen Selbstausbeutungsfaktor von 0,5.

Rollers Stück heißt „No Money, No Love“, Roller war damit auf Tournee und zeigt das Stück an diesem Abend zum letzten Mal. Seine Performance eröffnet das Kampnagel-Sommerfestival, das sich dem Schwerpunkt „Kaufen“ widmet. Bis 30. August gibt es auf Kampnagel und anderswo in der Stadt Tanz- und Theaterproduktionen sowie Vorträge und Konzerte. „Die Frage lautet: ‚Können wir mit Kaufen die Welt retten?‘ Wir zweifeln daran und haben Gäste eingeladen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie eine nachhaltigere Gesellschaft aussehen könnte“, sagt Festival-Leiter Matthias von Hartz.

Jochen Rollers Performance hat vor allem etwas Weinerliches. Sie hat aber auch etwas Nachhaltiges: Nach der Aufführung werden die Requisiten versteigert, um damit ein Stück für das Festival 2010 zu finanzieren. Die Versteigerung macht Gräfin Christiane zu Rantzau, sie ist Chairman des Auktionshauses Christie‘s und grinst mit sicherem Stand und stark geschminkt ins Publikum. Ihre Dynamik verhält sich zu der von Herrn Roller wie ein dreifacher Espresso zu Malzkaffee. Herrn Rollers grüne Trainingshose, über 200 Mal gewaschen, kriegt sie für 500 Euro verkauft, seinen roten „Hello Kitty“-Koffer für 900 Euro. Im Vergleich der Performance des Tänzers mit der Performance der Verkäuferin gewinnt die Verkäuferin. Die Kunst hat den Fehler gemacht, weinerlich zu sein. Die Welt der Waren führt 1 : 0.

Allerdings nur für eine gute Stunde: Mit Humor agierte am späteren Abend die Compagnie Philippe Quesnes mit „La Mélancholie des Dragons“ auf der Kampnagel-Bühne. Der Plot: Eine Heavy-Metal-Band bleibt auf dem Weg zum Konzert im Schnee stecken. Irgendwann kommt eine kleine Frau und erklärt den Kerls, wie das Auto zu reparieren ist. Die zeigen ihr dann, was sie an Show-Effekten in petto haben: ein aufblasbares Kissen etwa, dessen Wandlung man andächtig beschaut. Die Installation „Wasser“, aus einer schlichten Schüssel bestehend. Oder die Seifenblasen-Nummer, von einer Leiter aus zu betrachten. Ernst erklären die Langmähnigen, ernst lauscht die Frau.

Und in eben diesem Mix aus Persiflage jenes band-typischen Stehens, Gehens, Herumhängens und der kindischen Freude der Männer an schlichten Attraktionen besteht der Witz. Dies ist weder krampfiges Kabarett noch platter Slapstick. Sondern ein absurdes, urkomisches Gesamtkunstwerk aus Choreografie, Musik und Installation. KLI / PS

nächste Auftritte von Philippe Quesne: Sa + So, 21 Uhr