: Runter von der Wolke!
TESTBERICHT Seit einer Woche ist Spotify in Deutschland verfügbar. Der Streaming-Dienst wird als die Zukunft des Musikhörens ausgegeben, fällt aber hinter die Möglichkeiten des Internets zurück: So gut sortiert wie ein Plattenladen ist seine Playlist nicht
Fastenzeit ist auch für Ex-Katholiken die Zeit guter Vorsätze. Meiner lautet: Vom Deutschlandstart von Spotify am vergangenen Dienstag bis zur Abgabe dieses Textes werde ich nur Musik aus der Spotify-Cloud konsumieren – digitales Entschlacken sozusagen. Den dafür notwendigen Facebook-Account habe ich, also kann es losgehen. Der erste Versuch wird mir allerdings vom Programm selbst zunichtegemacht. Spotify greift auf die lokale iTunes-Bibliothek zu, also ab in die Voreinstellungen, das Häkchen weggemacht und bei der Gelegenheit gleich die Facebook-Integration getweakt. Muss ja nicht jeder wissen, dass ich beim Kochen gerne „Officer Krupke“ aus der West Side Story höre.
Die Werbung nervt
Musikhören sei „in einem beschleunigten sozialen Geflecht aufgegangen“, meint das Elektronikmagazin De:Bug in seiner aktuellen Ausgabe. Damit hat es Recht. Der eigene Freundeskreis findet sich dank Facebook schnell bei Spotify ein. Ein befreundeter Musikjournalist teilt eine Black-Metal-Playlist mit mir, ein Arbeitskollege mag meine Sammlung an Bassmusik-Tracks. Der Rest der Facebook-Freunde bringt mich mit einer Mischung aus College-Rock-Nostalgie und aktuellem Deep House durch die Woche Cloudhören, und das alles vollkommen kostenlos.
Finanziert wird dieses Angebot durch Werbung. Diese erfüllt ihren Zweck hervorragend, indem sie ungemein nervt. Anders als Facebook oder Google schaltet Spotify keine auf die User zugeschnittene Werbung, sondern die immergleichen Clips. Die Konsequenz: Fieser Großraumdisco-Trance unterbricht den Stream und man zückt innerlich bereits die Kreditkarte. Bei Spotify werden die Server-Rechnungen letztendlich doch durch die werbefreien, aber kostenpflichtigen Abonnements bezahlt. Das Ende des „geistigen Eigentums“, wie es die FAS neulich prophezeite, läuten Spotify und andere Streaming-Dienste dann auch nicht ein. Im Gegenteil – „geistiges Eigentum“ ist ja nichts als eine Metapher für die Verfügungsgewalt über bestimmte Verbreitungs- und Nutzungsrechte und diese Verfügungsgewalt bemerkt man in Streaming-Diensten bei jeder Suchanfrage. Spotify darf nur Musik streamen, die es von Labels, Musikverlagen oder Verwertungsgesellschaften lizenziert hat.
Das führt zu einigen Lücken im Musikangebot. Auf die neuen Alben von Adele und Coldplay verzichte ich gerne, bei Bonny „Prince“ Billy fällt der Verzicht schon schwerer. Sein Label Drag City, immerhin ein mittelgroßer amerikanischer Indie, ist nicht auf Spotify vertreten – die Einnahmen seien zu niedrig und die Musik würde durch Streaming entwertet, argumentiert das Label.
Weitere Lücken tun sich auf, falls die Labelkataloge im Laufe der Jahre den Besitzer gewechselt haben. Wer sich etwa für New Yorker HipHop interessiert, muss nicht nur auf alle Hits von De La Soul verzichten, sondern auch auf viele Alben, die auf den Raplabels Def Jux und Rawkus veröffentlicht wurden. Musik, die nie digital erschienen ist oder erscheinen wird, taucht bei Spotify eh nicht auf. Das größte Problem ist jedoch, dass der Streaming-Dienst nur begrenzt in der Lage zu sein scheint, die Gegenwart abzubilden. Das Mixtape des New Yorker Rappers A$AP Rocky, das ihm einen Plattenvertrag über 3 Millionen US-Dollar einbrachte, ist kostenlos im Internet verfügbar – nur auf Spotify hören kann man es nicht.
Verursacht werden diese Lücken, weil die verwendete Technik die Lizenz-Oligopole der Medienkonzerne untermauert. Bei Streaming-Diensten werden Musikdateien in der Cloud, also zentral auf firmeneigenen Servern, gespeichert. Die Computer der User werden dabei zum Terminal, der nur Musikdaten empfangen kann, über deren Verfügbarkeit das Oligopol der Rechteinhaber wacht. Bei Spotify stellt sich aber schnell das Gefühl ein, im Discounter anstatt im gut geführten Plattenladen gelandet zu sein. Unter den Neuerscheinungen befinden sich viele Compilations und Reissues, die aus Deichkind, Kettcar und Bruce Springsteen bestehenden Empfehlungen sind der kleinste gemeinsame Nenner.
Damit fällt der Streaming-Dienst aber zugleich hinter die Möglichkeiten des Internets zurück. Das in der Tauschökonomie der Peer2Peer-Netzwerke verhandelte Spezialwissen über Raritäten, das zwischen professioneller Selbstpromotion und Amateur-Remixoverkill pendelnde Soundcloud, das Folklorearchiv auf YouTube oder der semiprofessionelle Vertrieb der eigenen Bedroomproduktionen über Bandcamp – all das basiert auf einer Infrastruktur, die nicht so streng zwischen Produzenten und Konsumenten trennt. Dafür bietet sie die wirklich visionäre Musik von morgen. Eigentlich bräuchte es nur noch einen Weg, die dort versammelte Arbeit für Musiker finanziell einträglich zu machen, und die Zukunft der Cloud sähe weniger gleichförmig als ihre Gegenwart aus.
Übrigens, meine persönliche Spotify-Diät ist selbstverständlich gescheitert, wenn auch aus einem anderen Grund: Beim Aufräumen fiel mir eine alte Tonträger-Liebe in die Hände. Es gab sie auch auf Spotify, aber die Stereoanlage war den entscheidenden Meter näher als der Computer. Die analoge Faulheit ist halt stärker als der digitale Verzicht.CHRISTIAN WERTHSCHULTE