: Kontrast als Form der Kontinuität
ARTO LINDSAY Beim Festival „Tanz im August“ trifft Arto Lindsay, frei flottierende New Yorker Gitarristenlegende, auf den Tänzer Richard Siegal. Ihr Stück „Muscle“ untergräbt Konventionen und zeigt die beiden im Dialog
VON TIM CASPAR BOEHME
Für ein Tanzfestival scheint das Motto „Listen!“ überraschend. Doch beim diesjährigen „Tanz im August“ konzentriert man sich keinesfalls auf das Hören zulasten anderer Sinne. „Es gibt derzeit eine starke Fokussierung auf die Sinne, wozu nun mal auch die akustische Wahrnehmung gehört“, so Pirkko Husemann, eine der drei Kuratoren.
Für den Gitarristen Arto Lindsay, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren maßgeblich den Klang der experimentellen Downtown-Szene Manhattans prägte, könnte das Motto kaum passender sein: In seiner Musik spielt die körperliche Dimension von Klang und Sprache seit jeher eine wichtige Rolle.
Doppelbetrachtung
Lindsay, der zu verschiedenen Produktionen die Ballettmusik schrieb, hat mit dem Tänzer Richard Siegal, der früher im Ensemble von William Forsythe tanzte, das Stück „Muscle“ erarbeitet, in dem sie gemeinsam auf der Bühne agieren. „Wir möchten herausfinden, wie es ist, zwei Kunstformen gleichzeitig zu betrachten. Dabei werden sie zusammengefügt. Es ist keine Musik, zu der jemand tanzen soll, oder ein Tanz, der die Musik illustriert. Wir vermischen die beiden und halten sie gleichzeitig auseinander“, sagt der Musiker.
Zwischen Genre- und Ländergrenzen hat sich der 1953 geborene Musiker schon immer bewegt. Lindsays Vater ging als Missionar mit der Familie aus den USA nach Brasilien, wo der junge Arto Kindheit und Jugend verbrachte. In den frühen Sechzigern herrschte dort ein offenes Klima, das sich auch in musikalischen Vorlieben bemerkbar machte, neben Bossa Nova und Rock ’n’ Roll stand auch Avantgardemusik hoch im Kurs. Wenig später schuf die Tropicália-Bewegung daraus eine Klangrevolution. Künstler wie Caetano Veloso oder die Band Os Mutantes verknüpften Rock mit brasilianischer Folkmusik, wurden zu Stars und legten damit die Grundfesten für Lindsays Verständnis von musikalischer Freiheit. 1974 zog Lindsay des Studiums wegen nach New York, wo ihn die experimentelle Kunst- und Musikszene in den Bann zog.
Wie viele Künstler im New York der späten Siebziger machte Lindsay Musik, ohne besondere technische Vorkenntnisse mitzubringen. Auf seinem Instrument, der Gitarre, kann er bis heute keine Akkorde spielen, das Singen brachte er sich „über mehrere Alben hinweg“ bei.
Seine erste Band DNA gründete er 1978 mit dem Keyboarder Robin Crutchfield und der Schlagzeugerin Ikue Mori. Ihr stakkatoartiger Noise-Stil, dominiert von Lindsays atemlosen Schreianfällen und herausgeschleuderten Gitarrenfetzen, machte sie zu Kultlegenden der aufkeimenden No-Wave-Szene. Ihr Klang war radikal, doch die Musik von DNA bedeutet für ihn keinen Bruch mit der Vergangenheit: „Es war ein Versuch, den ästhetischen Nerv des Rock ’n’ Roll auf den Punkt zu bringen.“
In der Folgezeit gab es kaum ein wichtiges Projekt der New Yorker Downtown-Szene, dem Lindsay nicht mit Stimme oder Geschredder behilflich war: John Luries Lounge Lizards, die Golden Palominos um den Schlagzeuger Anton Fier oder die zahllosen Projekte des Komponisten-Saxofonisten John Zorn. In seiner mit dem Keyboarder Peter Scherer gegründeten Band Ambitious Lovers mischte er Bossa Nova mit Funk oder No Wave zu schrägen Popsongs.
Brasilpop, New-York-Lärm
In den Neunzigern schuf Lindsay mit Alben wie „Mundo Civilizado“ oder „Noon Chill“ ambivalente Popgebilde aus Elementen von brasilianischer Musik, HipHop und Noise: „Ich arbeite gern mit Kontrasten.“ Mit sanfter Stimme lässt er eine zwischen Zartheit und Aggression oszillierende Stimmung entstehen, in der es immer wieder zu unerwarteten Krachausbrüchen kommt. In dieser Zeit pendelte er zwischen New York und Brasilien und machte sich einen Namen als Produzent erfolgreicher Alben von Stars wie Caetano Veloso, Vinicius Cantuaria oder Marisa Monte.
Lindsay, der vor fünf Jahren wieder nach Brasilien zog, achtet bei aller Gegensätzlichkeit seiner Musik auf Kontinuität. Da er eine Gefahr der Gewohnheitsbildung sieht, sucht er stets nach neuen Ausdrucksformen. Besonders radikal geht er in dem gemeinsam mit Siegal entstandenen Stück „Muscle“ vor, in dem die Konfrontation nicht innerhalb der einzelnen Künste, sondern in ihrem Miteinander stattfindet. Lindsay steht neben Siegal, spielt abstrakte Gitarrenriffs und singt. Der Tänzer bewegt sich nicht bloß zur Musik, sondern berührt auch schon mal die Gitarre und greift so in das musikalische Geschehen ein.
Der unermüdliche Lindsay veranstaltet seit einigen Jahren zudem Paraden, in denen er seine Musik in einen neuen Kontext stellt. So führt er am 26. September in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt seine „Penny Parade“ auf. Für Pop interessiert er sich nach wie vor, auch wenn er bedauert, dass dieser seine gemeinschaftsbildende Funktion eingebüßt hat. Die gegenwärtige Situation sei eine „Experimentierphase“, auf die eine Renaissance des Pop folgen werde. Er selbst geht mit gutem Beispiel voran: Sein für nächstes Jahr geplantes neues Soloalbum ist schon halb fertig.
„Muscle“, Sophiensæle, 16. und 17. August, jeweils 21.30 Uhr. Mehr Infos zum Festival unter www.tanzimaugust.de