Intelligente Überraschung!

Cannes Cannes (7): Avi Mograbis Film über den israelisch-palästinensischen Konflikt

Auf dem roten Teppich vor dem Grand Théâtre Lumière stoßen Extravaganz und Reglement hart aneinander. Wer eine Einladung in den Händen hält, aber die falschen Schuhe trägt, wird an den Pforten ausgemustert; weiter oben, am Ende der Treppen, stehen blau Uniformierte Spalier. Die gewöhnlichen Besucher huschen im Pulk die Stufen hoch. Wer berühmt ist, posiert vor den Fotografen, und wer zum Filmteam gehört, darf sich aufführen, wie es ihm beliebt. Zum Beispiel Asia Argento am Abend der Premiere von Gus Van Sants herausragendem Film „Last Days“: Sie bezaubert mit dem Charme des bad girl, Zigarette im Mundwinkel, mit ihrer männlichen Entourage tuschelnd. Umso besser fürs Image des roten Teppichs: Ohne solche Intermezzi hätte die Angelegenheit zu viel von einer militärischen Parade.

Eine Überraschung wartet in der Salle Buñuel: Außer Konkurrenz wird dort ein Film des israelischen Regisseurs Avi Mograbi gezeigt. Schlecht besucht ist die Vorführung, und weil sich „Avenge but one of my two eyes“ in der ersten halben Stunde seiner hastigen Videobilder fahrig ausnimmt, brechen viele verfrüht auf. Schade, denn was nun folgt, verdient breite Aufmerksamkeit, zählt es doch zu den intelligentesten Filmessays über den israelisch-palästinensischen Konflikt, die ich kenne. Viele der Szenen scheinen zunächst vertraut: Palästinenser stehen an Straßensperren, ein Recht auf Mobilität haben sie nicht und auch keines darauf, Herr über ihre Zeit zu sein. Sie warten, ohne dass sie wüssten, ob und wann sie passieren dürfen. Mograbi filmt Männer, die von den Soldaten dazu gezwungen werden, sich auf Steine zu stellen; so verharren sie für Stunden. Er filmt, wie eine Frau, die ins Krankenhaus will, nicht passieren darf. Ein gepanzerter Jeep hindert sie daran, indem er die staubige Straßenkreuzung in Beschlag nimmt. Er beschleunigt, bremst scharf ab, dreht um, beschleunigt wieder. Als wenig später zwei Krankenwagen eintreffen, attackiert sie der Jeep wie ein wilder Stier.

Mograbi eröffnet eine zweite Perspektive, indem er eine Art Mythenforschung unternimmt. Er besucht Schulklassen, in denen die Geschichte von Samson gelehrt wird – die alttestamentarische Figur riss, da sie keinen anderen Ausweg sah, sich und 3.000 Philister in den Tod. Mograbi besucht Rastafaris, die zunächst wie entspannte Reggae-Fans wirken. Später wird klar, dass sie sich mit ihrer Haartracht auf Samson berufen und auf dessen von ihnen als heroisch betrachtete Tat. Er besucht das Konzert einer Rockband; alle Zeichen deuten darauf hin, dass man es mit einer progressiven Jugendkultur zu tun hat. Doch weit gefehlt: Diese jungen Männer huldigen dem radikalen Zionisten Meir Kahana, der 1990 in New York ermordet wurde.

Die zweite Geschichte ist die von Massada. Heute eine archäologische Stätte auf einem Hochplateau, war die Stadt einst von den Römern belagert. Die eingeschlossenen Zeloten brachten sich um, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen. Eine Lehrerin ist skeptisch: Entspricht es der Thora, sich selbst zu töten? Als die Schüler sich für eine von vier Reaktionsmöglichkeiten entscheiden sollen – beten, zu den Waffen greifen, sich ergeben, sich umbringen –, plädiert die Mehrheit für den Selbstmord; ergeben würde sich nur eine Schülerin. Mograbi belässt die Analogien zur aktuellen Situation, zum aktuellen Selbstverständnis der Israelis unausgesprochen; das schützt den Film davor, schematische Gleichungen aufzustellen.

„Ich liebe das Leben“, sagt der Regisseur gegen Ende des Filmes, als er mit einem palästinensischen Freund telefoniert. Der ist sich nicht sicher. „Wenn du auf meiner Seite lebst, ist es dir gleichgültig, ob du lebendig oder tot bist.“ CRISTINA NORD