: Abgang der Trainingsanzüge
Heute geht das Turnfest mit einer Gala zu Ende. Mit ihm kam die Provinz zu Besuch in die Hauptstadt. Die Berliner hat das Fest nur wenig interessiert: Dafür waren die Veranstaltungen viel zu alltäglich
VON ANDREAS RÜTTENAUER
Auf der Bühne vor dem Roten Rathaus schmettert der Spielmannszug der Freien Turnerschaft Schney Märsche auf den weiten Platz. Als der musikalische Leiter den „Kyffhäuser Turnermarsch“ ankündigt, ertönt ein schwärmerisches „Ahh!“ aus dem Publikum. Vor allem die Damen des TV GutHeil Dortmund-Aplerbeck sind begeistert. Zwei Walkerinnen bewegen sich geschmeidig zur Marschmusik und walken rhythmisch weiter. Männer in Trainingsjacken trinken Bier, ihre Frauen Kaffee.
Unweit der Bühne absolvieren einige Menschen den Turnspielparcours. Dort stellen sich die Mannschaftssportarten, die im Turnerbund zusammengefasst sind vor. Faustball und Korbball, Prellball und Völkerball. Die meisten, die die Übungen mitmachen, sind an den Trainingsjacken als Turnfestteilnehmer zu erkennen. Die paar Einheimischen, die vorbeischlendern, würdigen das Treiben kaum eines Blickes.
Eine typische Szene für das Internationale Deutsche Turnfest, das heute zu Ende geht. Eine Woche lang bevölkerten insgesamt 100.000 Sportler Berlin. Meistens ganz weit draußen, am Messegelände oder an den Sportplätzen am Eichkamp. Bisweilen aber auch mitten in der Stadt: am Schlossplatz, am Potsdamer Platz oder eben vor dem Roten Rathaus. Heute Abend darf auf der großen Gala im Olympiastadion noch einmal getanzt, gesungen, geturnt und gewunken werden – zum Abschied.
Die Turner wollten ihre Botschaft hinaustragen aus den Hallen auf die Straßen: „Berlin bewegt uns“, lautete das Motto des Turnfestes. Doch richtig großes Interesse zeigten nur wenige Berliner. Und warum sollten sie auch? Die Turner veranstalten nichts Besonderes. 100.000 von ihnen sind in die Hauptstadt gekommen, um das zu zeigen, was sie Woche für Woche in ihren Clubs machen. Und das ist eben nur selten etwas Außergewöhnliches: Sie turnen, tanzen, singen – und das im Verein. Deshalb lässt sich eine Veranstaltung wie das Turnfest so schlecht fassen.
Zwar sind die Turnfestturner überall in der Stadt unterwegs. Doch außerhalb der Topveranstaltungen findet nichts statt, was besondere Anziehungskraft auf eventverwöhnte Hauptstädter ausüben könnte. Vielleicht reagierten viele von ihnen deshalb so zurückhaltend auf das Großereignis.
100.000 ganz normale Deutsche sind nach Berlin gekommen, um sich zu treffen. Die Normalos im Trainingsanzug sind nicht zu Besuch, um Berlin zu neuem Glanz zu verhelfen. Viele der angereisten Sportler kommen aus kleineren Städten und Gemeinden. Sie haben sich und ihre Vereine vorgestellt, ihren Freizeitalltag. Sie haben die viel besungene Provinz in die Hauptstadt geholt. Deutschland war zu Besuch in Berlin. Und die Hauptstadt reagiert unterkühlt auf ihre Besucher. Nicht einmal die Schüler wissen genau, was das Turnfest ist. Dabei müssten die den Turnern eigentlich dankbar sein: Nur um möglichst viele Sportler in Schulturnhallen unterbringen zu können, gibt es in Berlin in diesem Jahr Pfingstferien.
In vier Jahren trifft man sich in Frankfurt am Main. Dann werden die Trainingsjacken mit den lustigen Ortsnamen – die Prellballer des SSC Dodesheide 1962, die Faustballer des TSV Schwieberdingen, die Seilspringer des SV Blau-Weiß Straupitz – durch die Mainmetropole ziehen und für ihre Sache werben: Bewegung im Verein.