Klassenkeile vorbei

VON ULRIKE WINKELMANN

Heuschrecken? Wer ist das? Kapitalismuskritik? Nie gehört. Ausführlich erläuterte der SPD-Chef Franz Müntefering gestern auf dem vierten und letzten Programmforum in der Berliner SPD-Parteizentrale, wo der Mensch im sozialdemokratischen Denken steht – im Mittelpunkt – und was ihn auszeichnet – die Freiheit.

Bemerkenswert war das deshalb, weil Müntefering auf den Foren im Februar und April den Kapitalismus und die Kapitalisten kritisiert hatte. Dies brachte der SPD eine anhaltende Auseinandersetzung mit der Wirtschaft ein. Der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, keilte zurück. Viele Zeitungen zitierten ihn: Die Debatte sei „beschämend“ und gehöre in den „realen Sozialismus“.

Doch nahm Müntefering den Handschuh nicht wieder auf. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, um zum Beispiel seine Genossinnen und Genossen „vor Ort“ zu lobpreisen: Sie seien „tolle Typen“, „stolz, aber nicht arrogant, gerecht, aber nicht sentimental, klug, aber nicht schlau“. Eine Partei, „in der so etwas wächst, die muss Substanz haben“. Unternehmer kamen nur ganz am Rande vor: „Leider nicht alle“ von ihnen hielten sich daran, dass „Wirtschaft für den Menschen“ da sei, „nicht umgekehrt“.

Nun wird übermorgen in Nordrhein-Westfalen gewählt, und dort wackelt eine rot-grüne Regierung. Bislang vermutete die Berliner SPD-Zentrale (anders als die Düsseldorfer Landeszentrale), dass die Kapitaldebatte mehr nützt als schadet. Doch könnten Münteferings versöhnliche Worte von gestern ein erstes Stopp-Signal sein – vor allem für die Parteilinke, die sich im Aufwind wähnt.

Denn geht die NRW-Wahl wie erwartet verloren, werden sich die Kritiker des Kanzler- und Agenda-2010-Kurses schwer von konkreten Forderungen abhalten lassen. Der Bundestags-Quertreiber Ottmar Schreiner kündigt bereits im Alleingang Änderungen am ungeliebten Arbeitsmarktgesetz „Hartz IV“ an.

Große Teile der Partei und der Fraktion wollen die mit der Union zwar vereinbarte, aber nicht zu finanzierende Senkung des Körperschaftsteuersatzes aufhalten. „Steuersenkung kann kein politisches Ziel sein“, sagt der niedersächsische SPD-Landeschef Wolfgang Jüttner. Sein saarländischer Kollege Heiko Maas schlägt sogar vor, höhere Steuern ins Parteiprogramm aufzunehmen, das ja schließlich unter anderem aus den Programmforen hervorgehen soll.

Auch gestern musste sich die SPD-Spitze im Willy-Brandt-Haus erklären lassen, wie sozialdemokratische Prinzipien in der Praxis aussehen könnten. Jutta Allmendinger, Chefin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das in Nürnberg der Bundesagentur für Arbeit zuarbeitet, erklärte: Hartz IV, Fördern und Fordern, gut und schön – aber wem nützt das, „wenn die Kinder in den Schulen ausbildungsunfähig gemacht werden“?

Allmendinger sagte: „Bildungspolitik ist Teil der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, deshalb müssen die Mittel in die Bildung umgeschichtet werden.“ Zwanzig Prozent eines Jahrgangs seien „bildungsarm“ und bekämen auf dem Arbeitsmarkt keine Chance. Wer den Kindern eine ordentliche Schulausbildung verweigere, dürfe später keine „Eigenverantwortung“ von ihnen fordern.

Deshalb schloss sich Allmendinger der Forderung des Regierungsberaters Karl Lauterbach an, qualitativ hochwertige und verpflichtende Vorschulen für die Drei- bis Sechsjährigen einzurichten. „Wann wäre der richtige Zeitpunkt für eine Bildungsdebatte – wenn nicht jetzt?“, fragte der und erklärte Bildung zum „Schlüsselbereich“ einer sozialdemokratischen Politik.

Diese, das gab auch Müntefering zu, habe bislang in einem versagt: „den sozialen Fortschritt als Grundimpuls unseres Handelns erkennbarer zu machen“. Was Fortschritt sei, darüber war er sich nicht so sicher – „vielleicht nicht viel mehr, als Rückschritt nicht zuzulassen. Man ist ja bescheiden.“