: Ende eines politischen Mythos
Der Massenmord an den Juden von Jedwabne war zwar von den Deutschen inspiriert. Aber er wurde von polnischen Tätern selbstständig verübt. Karol Sauerland fragt nach den Gründen für den Hass
Zu Beginn des neuen Jahrtausends lief in Polen eine Debatte ab, die das Selbstverständnis des Landes erschütterte. Sie war mit dem Namen einer kleinen Ortschaft in der Woiwodschaft Lomza verknüpft: Jedwabne. Dort war im Juli 1941, kurz nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion und der Besetzung dieses zwei Jahre lang sowjetisch kontrollierten Gebiets, die gesamte jüdische Einwohnerschaft ermordet worden.
Welche Rolle spielten bei diesem Verbrechen die polnischen „Nachbarn“? Zuschauer, Erfüllungsgehilfen wider Willen, Angestiftete, Täter aus eigenem Entschluss? Darum geht es auf der Ebene der Tatsachen. Aber darüber hinaus ist fraglich, ob das Selbstbild der polnischen Nation als eines unschuldigen Opfers zweier totalitärer Regime aufrechterhalten werden kann.
Karol Sauerland, renommierter Germanist und vormals aktiv in der demokratischen Opposition gegen den Realsozialismus, hat sich jetzt der schwierigen Aufgabe unterzogen, den Verlauf dieser Debatte für das deutsche Publikum nachzuzeichnen. Dabei kam ihm zustatten, dass ein autoritatives polnisches Gremium, das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), Ende 2002 mit einer Dokumentation zu Jedwabne eine solide Faktenbasis vorlegte. Danach war zweierlei nicht mehr anzweifelbar: Der Massenmord von Jedwabne war von den Deutschen inspiriert, aber von polnischen Tätern selbstständig verübt worden. Und er war kein Einzelfall.
Aber warum diese Morde? Sauerland befasst sich nicht nur mit dem Zeitraum der heftigsten Kontroverse, also zwischen der Publikation des Werkes „Nachbarn“ des amerikanisch-polnischen Historikers Jan Tomas Gross, das die Debatte auslöste, und dem Erscheinen des IPN-Werkes, das sie jäh beendete. Er will den tieferen Grund für diesen Ausbruch von Hass und Gewalt finden.
Dabei beschäftigt ihn die immer wieder seitens national orientierter polnischer Historiker vorgetragene These, die Juden hätten diesen Hass selbst produziert. Sie hätten in großem Umfang an den Unterdrückungsmaßnahmen und Deportationen durch die Sowjets in den von ihnen besetzten oder annektierten Gebieten teilgenommen und so die polnische Sache verraten. Dies sei zwar keine Entschuldigung für die Pogrome, biete aber immerhin eine einleuchtende Erklärung.
Um diese These zu widerlegen, bemüht Sauerland eine Statistik, aus der hervorgeht, dass die jüdischen Polen – so sie den sowjetischen Verfolgungskriterien unterlagen – ebenso zu Opfern wurden wie ihre christlichen Mitbürger. Für den sowjetischen Geheimdienst NKWD wurden zudem keineswegs nur jüdische Polen rekrutiert. Allerdings war die Zahl der Kommunisten und Sozialisten unterschiedlicher Couleur unter der jüdischen Bevölkerung Polens ungleich größer als bei den „Ariern“ – kein Wunder angesichts der massiven Unterdrückung der Juden im zaristischen Russland wie auch im neu entstandenen polnischen Staat. Und schließlich: Die Sowjetunion versprach Rettung vor den Nazi-Mördern.
Sauerland zeigt die Entstehungsgeschichte des politischen Mythos von der „Judäo-Kommune“ auf – der Gleichsetzung der Bolschewiki mit den Juden unter dem Stern der Vernichtung der polnischen Nation. Diese Mythologie wurde von den Nationaldemokraten vertreten.
Gestützt wurde die Ausgrenzung des Judentums durch Vertreter des polnischen Katholizismus, die sich schon vor 1939 in Städtchen wie Jedwabne aktiv an antisemitischen Kampagnen, etwa dem Boykott jüdischer Geschäfte, beteiligt hatten, also reale soziale Konflikte ideologisch aufluden. So bedurfte es keines langen Zuredens der SS-Emissäre, um die christlichen Bewohner – nicht nur Jedwabnes – zur Tat schreiten zu lassen. Nur so erklärt sich das notorisch gute Gewissen der Mörder.
Fasst man die von Sauerland sorgfältig charakterisierte und bewertete Debatte ins Auge, so fällt bei den Diskutanten das Übergewicht nationalistisch-apologetischer Argumente auf. Die Gegner der These von der polnischen Täterschaft in Jedwabne verschlossen sich Argumenten, verschanzten sich oft hinter professoralem Hochmut. Dennoch bedeutete diese Debatte einen Dammbruch. Die Fronten verliefen nicht zwischen „ihr“ und „wir“, zwischen ausländischer Kritik und heimisch-polnischer Abwehr, sondern mitten durch die Gesellschaft. Zudem finden sich erstaunliche Beispiele des unbestechlichen Blicks. Insofern vermittelt dieses nützliche Buch eine optimistische Perspektive. CHRISTIAN SEMLER
Karol Sauerland: „Polen und Juden, Jedwabne und die Folgen“. Philo-Verlag, Berlin/Wien 2004, 332 Seiten, 29,80 EuroDie wichtigsten Texte der Jedwabne-Debatte hat die Redaktion der Zeitschrift „Transodra“ auf Deutsch veröffentlicht: www.transodra.de