Renate hat verstanden

GRÜNER PARTEITAG Die Landesdelegierten lassen Exspitzenkandidatin Renate Künast bei der Wahl zum Parteirat abblitzen. Die leistet Abbitte – und wird in der zweiten Runde gewählt

■ Ganz in den Hintergrund geriet angesichts der Wahlaufregung das Thema des Parteitags „Energiewende jetzt!“ Dabei stellten sich die Grünen hinter das Volksbegehren „Neue Energie für Berlin: Es stehe für die längst überfällige öffentliche Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung.

■ Parteichefin Bettina Jarasch stellte klar, dass die Grünen die vom Volksbegehren geforderte Rekommunalisierung der Stromnetze nur als eine von drei Möglichkeiten betrachteten, mehr Einfluss auf die Energieversorgung zu nehmen. Alternativen seien eine genossenschaftliche Beteiligung von Bürgern oder eine Vergabe der Netzkonzession, die jetzt beim Versorger Vattenfall liegt, an einen unabhängigen Betreiber. Wichtig sei aber das gemeinsame Ziel, Druck auf den Senat aufzubauen.

■ „Wir haben es mit einer Koalition zu tun, die den Eindruck erweckt, als müsse sie beim Stichwort Klimaschutz im Fremdwörterbuch nachschlagen“, sagte Ko-Chef Daniel Wesener. Der grüne Plan: Spätestens ab 2050 soll sich Berlin komplett aus erneuerbaren Energien versorgen. Der Strom soll schon 2030 nur aus erneuerbaren Quellen kommen, bis 2016 soll Berlin aus der Braunkohle-Nutzung aussteigen. (sta)

VON STEFAN ALBERTI

188 Tage nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus haben Berlins Grüne am Wochenende ihre damalige Spitzenkandidatin Renate Künast für die verpasste Regierungsbeteiligung abgestraft. Die amtierende Bundestagsfraktionschefin fiel im ersten Wahlgang zum erstmals gewählten Parteirat durch. Den Einzug in das Gremium, das Abgeordnete und Parteiebenen besser miteinander vernetzen soll, schaffte sie erst im zweiten Anlauf. Vertreter von Linken wie Realos zeigten sich völlig überrascht. „Es gab in keinem Lager eine Anti-Künast-Kampagne“, sagte die Landesvorsitzende Bettina Jarasch der taz. Ko-Chef Daniel Wesener zeigte sich enttäuscht: „Wenn es Kritik gibt, wäre es anständig gewesen, das vorher zu artikulieren.“

Künast hatte die Kandidatur auf dem Gipfel des Grünen-Booms im November 2010 übernommen. Fortan sanken die Grünen-Werte fast stetig von 30 Prozent in den Umfragen auf das Wahlergebnis von 17,6 Prozent. Koalitionsgespräche mit der SPD scheiterten. Die Linken hatte Künast vergrätzt, weil sie sich lange ein Bündnis mit der CDU offenhielt, die Realos, weil sie Grün-Schwarz kurz vor der Wahl ausschloss und dieser Option später generell eine Absage erteilte. Letzteres hallte bei einem bundesweiten Realo-Treffen vor einigen Wochen nach, wo Künasts Rede nach Teilnehmerberichten mit eisigem Schweigen aufgenommen wurde.

Im Landesverband aber schien nach umfangreichen Diskussionen, einer Fehleranalyse der Landesvorsitzenden und einem streitbaren kleinen Parteitag Ende 2011 der größte Ärger vorbei. Im Januar stimmte ein Sonderparteitag mit großer Mehrheit einem Antrag zu, der quasi einen Schlussstrich unter die Fehlerdiskussion zog und einen Debattenprozess über künftige Inhalte einleiten sollte.

Auch Daniel Wesener hat sich am Samstag noch über Streitigkeiten im Senat und in der SPD lustig gemacht: „Im Vergleich dazu sind wir die reinen Harmoniebolzen.“ Künasts Ergebnis widerlegt ihn und zeigt, dass vielen Delegierten der Schlussstrich offenbar nicht deutlich genug war. „Es war die erste Gelegenheit, wo der Frust sich individuell entladen konnte“, sagt der Europaabgeordnete Michael Cramer nach Künasts Durchfaller. Mit nur 48,3 Prozent verpasst die prominente Grüne den Mindeststimmenanteil von 50 Prozent. In diesem Wahlgang, in dem sich neun Bewerberinnen auf acht den Frauen vorbehaltenen Plätzen im 21 Mitglieder starken Parteirat bewarben, ist es das zweitschlechteste Ergebnis.

Als die Schlappe bekannt wird, herrscht im Tagungsort, der Kreuzberger Jerusalemkirche, für einen Moment absolutes Schweigen. Jubel von Künast-Kritikern bleibt aus. Erklärungsversuche gibt es schnell: Die Linken hätten sie nicht gewählt, verbreiten führende Realos. Parteichef Wesener, der vom linken Parteiflügel stammt, weist diesen Vorwurf gegenüber der taz zurück.

Künast selbst scheint ratlos, stößt mehrfach die Luft aus geblähten Backen aus. Sofort ist sie umringt von den beiden Landeschefs und führenden Realos wie Fraktionschefin Ramona Pop. Auch dabei, obwohl ohne Amt oder Mandat: Exfraktionschef Volker Ratzmann, der seit Anfang März die Interessen Baden-Württembergs beim Bund vertritt. Gut sichtbar für alle im Saal steht das Grüppchen vorne rechts, wo eine alte Inschriftenplatte aus der Jerusalemkirche hängt – passend zur Grabesmiene auf den Gesichtern.

Wird sie wieder antreten? Noch sind die sogenannten offenen Plätze im 21-köpfigen Parteirat zu besetzen, für die sich nach Grünen-Satzung Männer und Frauen bewerben können. „Das klärt sich gerade“, heißt es. Ratzmann formt aus dem Rudel heraus mit den Händen ein „T“ in Richtung Tagungspräsidium, wie es im Sport Trainer machen, die eine Auszeit brauchen. Er wird erhört: Künast bekommt zehn Minuten Bedenkzeit.

„Es war die erste Gelegenheit, wo der Frust sich individuell entladen konnte“

MICHAEL CRAMER, EP-ABGEORDNETER

Michael Cramer ist sicher: „Wenn sie noch mal antritt, wird sie mit großer Mehrheit gewählt“, sagt er der taz. Und was, wenn nicht? Zwei Durchfaller könnte Künast kaum verkraften. Andererseits kann sie den Tag kaum ohne Erfolgserlebnis verlassen, wenn sie ihre Chancen für die wirklich wichtige Parteiwahl in einem Dreivierteljahr nicht entscheidend schmälern will. Da stellen die Berliner Grünen nämlich ihre Kandidaten für die Bundestagswahl im Herbst 2013 auf. Und sie kann nicht wirklich beanspruchen, bundesweit wieder Grünen-Spitzenkandidatin zu werden, wenn sie es noch nicht mal im eigenen Landesverband in ein Gremium schafft.

Nachdem aus zehn Minuten Pause rund 20 geworden sind, hat sich Künast entschieden: Sie tritt wieder an. „Ihr Lieben“, hebt sie an, als sie zur Begründung ans Rednerpult geht. „Ich glaube, ich habe verstanden. Es war eine Botschaft für Dinge, die im Wahlkampf falsch gelaufen sind.“ Ein Kind hinten im Saal quakt „Wahlkampf“ nach, die Stimmung entspannt sich ein bisschen. „Ja, für manche ist das ein neues Wort – für mich nicht.“ Sie habe auch vorher geahnt, „was da in manchem Herzen los ist“, sagt Künast. „Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Aber das will ich aufarbeiten.“ Dazu sei der Parteirat der richtige Ort. Lauter Beifall, auch von führenden Linken.

Eine halbe Stunde später ist das neue Ergebnis da, und der Europaabgeordnete Cramer behält recht: Künast fährt von den elf Bewerberinnen und Bewerbern mit 76,5 Prozent das beste Ergebnis ein.