Das Behagen in der Kultur

Die Berliner Republik träumt ihren Künstlerroman: Heute Abend wird der Neubau der Berliner Akademie der Künste eröffnet. Transparent ihre Fassade, hochsymbolisch ihr Ort – nur in der ästhetischen Debatte sind leider Rückschritte zu verzeichnen

Wie kommt bloß das Wort „Nation“ in die kulturellen Diskussionen?

VON DIRK KNIPPHALS

Ein Künstlerroman muss nicht unbedingt in Buchform niedergelegt sein. Man kann (einem Hinweis Michael Rutschkys aus seinem Buch „Lebensromane“ folgend) so jedes Ergebnis eines Fantasierens über die Wirkungen der Künste nennen, über Sinnsuche und gesellschaftliche Widerstände sowie über das Eigentliche, das man über den profanen Broterwerb hinaus noch mit seinem Leben anfangen sollte … In diesem Sinne träumt die Berliner Republik heute Abend ihren Künstlerroman.

Anlass ist die Eröffnung des Neubaus der Berliner Akademie der Künste. Die Staatsspitze ist dabei, denn es handelt sich um einen hochsymbolischen Akt. Der Bundespräsident wird reden, derselbe, der neulich in einer vielbeachteten Schiller-Rede ausführte, es würde unserer Kulturnation ganz gut tun, die klassischen Stück ungekürzt und ohne Einmischung vom Regietheater auf die Bühne zu bringen. Der Bundeskanzler wird auch etwas sagen; ihm wird ja sowieso ein unverstelltes Interesse an Künstlern und Intellektuellen nachgesagt. Auch sonst sind alle da – nur Wowi nicht. Obwohl als weiterer Eröffnungsredner angekündigt, lässt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit vermelden, dass er lieber zum Saisonfinale der Hertha ins Olympiastadion gehe. Ist er doch beleidigt, weil sich der Bund vergangenes Jahr die Trägerschaft der Akademie vom Land geschnappt hat?

Großer Staatsakt also. Politiker und Künstler werden zusammen das Stück von der Nähe von Wissen und Macht spielen. Dies ist ein wichtiges Motiv des Künstlerromans der Berliner Republik: dass man gut miteinander kann und die Gräben zwischen Politik und Kultur, die die alte Bundesrepublik durchzogen („Ratten und Schmeißfliegen“), zugeschüttet sind.

Hier passt die Geschichte der Akademie einfach perfekt hinein. Ausdrücklich mit der Aufgabe der Fürstenberatung – so steht es in der Sonderveröffentlichung der Akademie, die am Donnerstag einigen Tageszeitungen beigelegt wurde – ist sie vor 300 Jahren gegründet worden. Auch das heutige Setting hat etwas von Gelehrtenrepublik – als könnte der Gerhard (Schröder) jederzeit herüberschlendern und unseren Nobelpreisträger in einem der Clubräume mal eben bei Rotwein und Zigarre fragen: „Na, Günter, jetzt mal ehrlich: Was hältst du nun wirklich von Hartz IV?“

Um das zweite Motiv des Künstlerromans der Berliner Republik zu bezeichnen, muss man den Ort bedenken, an dem wir uns befinden. Wir sind nämlich am Brandenburger Tor; hier schlägt das symbolische Herz der größer und ihrem Selbstverständnis nach wieder normal gewordenen Bundesrepublik. Aufgeladene Bedeutungen, in welche Richtung man auch blickt. Nimmt man nur die Lage der Grundstücke, verbindet der Akademie-Neubau das Hotel Adlon, das Symbol des Neureichtums in neoklassizistischen Fassaden, mit dem Holocaust-Mahnmal, Ort des Gedenkens und Symbol dessen, dass Auschwitz nie wieder geschehen darf. Hinter dem Brandenburger Tor befinden sich rechter Hand Reichstag und Kanzleramt, die Orte der Macht also, und linker Hand der Potsdamer Platz, Zentrum von Konsum und Spaßkultur.

Shoppen, gedenken, bürgernah regieren – diese drei Tätigkeiten umreißen ganz gut den Kern unserer Staatsräson. Aber da fehlt noch etwas, und das bezeichnet das zweite Motiv des gegenwärtigen Künstlerromans. Es besteht darin, dass da noch etwas hinmuss: das Höhere, die Sinnebene – die Kultur eben. So hat die heutige Eröffnung etwas Komplettierendes: Neue Nationalgalerie im Westen und Museumsinsel im Osten sind, obwohl jeweils nur gut einen Kilometer entfernt, einfach zu weit weg, mitten im Zentrum muss noch ein Kunstort stehen. Und sehet, hier ist er also! Und dann noch nicht einmal nur ein Museum, sondern ein offener Ort der Reflexion und des Debattierens!

Es passt überhaupt gut in diesen Künstlerroman, dass die Akademie mit ihrem neuen Haus Luftigkeit ausstrahlt. Das drückt sich schon in ihrer Glasfassade aus, die sich so imponierend von den anderen Gebäuden auf diesem Gelände abhebt. Es ist etwas Verspieltes, auch etwas von einem bunten Hund in diesem Bauwerk, und das macht sich für einen Ort der Künste ja auch gar nicht schlecht. Transparent wirkt die Fassade außerdem, sodass der Eindruck eines geschlossenen Clubs mit geistesaristokratischen Zügen (der die Akademie in Wahrheit allerdings ist, jedenfalls ein bisschen) gar nicht erst entsteht. So darf der Künstlerroman der Berliner Republik ein Happy End haben.

Nun wirken viele Romane mit Happy End allerdings etwas banal. Außerdem kann man als Hintergrund dieses Künstlerromans die Kunstbeflissenheit ausmachen, die bekanntlich nicht immer der beste Ratgeber bei der ernsthaften Beschäftigung mit Kunst und Kultur ist – zumal oft und gerade auch durch Kulturstaatsministerin Christina Weiss eine Sinnstiftung-durch-Kunst-Rhetorik hinzukommt. Aber zunächst sollte man das vonseiten der Kultur pragmatisch sehen: Was ist schon gegen Kunstbeflissenheit zu sagen, solange sie die Infrastruktur von Kunst und Kultur verbessert? Mal alles Symbolische beiseite gelassen, ist das neue Akademiegebäude jedenfalls einfach Klasse. Schön groß, sieht gut aus, helle Räume, gute Verkehrsanbindung: Kann man was draus machen.

Allerdings scheint es in dieser Gemengelage aus historischen Aufträgen, kulturellen Aufladungen und aktueller gesellschaftlicher Gemütsverfassung einige Versuchungen zu geben – und schon jetzt gibt es Hinweise darauf, dass die beteiligten Personen ihnen nicht in jedem Fall werden widerstehen können.

Wo kommt zum Beispiel immer dieses ominöse Wort „Nation“ her, das sich seit einiger Zeit in kulturelle Debatten drängelt? Neulich wurde in Berlin ernsthaft diskutiert, ob die Hauptstadt nicht ein Nationaltheater brauche, und eben gerade erst hat das Bundeskabinett beschlossen, dass die Deutsche Bibliothek künftig Deutsche Nationalbibliothek heißen soll, weil das ihre Funktion gut beschreibe. Welche Funktion? Die des inneren Nationenbauens qua Kulturzusammenhang? Das klingt in Zeiten von EU-Erweiterung und glücklich globalisiertem Karneval der Kulturen doch, um es freundlich zu sagen, ein Stück weit zu antiquiert. Überhaupt kann man hier gut erkennen, dass wir uns wirklich auf der Ebene des Fantasierens befinden. Eine Institution, die alle deutschsprachigen Publikation sammelt, ist eine praktische Sache. Aber dass man mit einer Umbenennung dieser Institution an die Ebene unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses rühren kann, ist Kokolores. Hoffentlich glaubt im Überschwang nicht wirklich jemand ernsthaft, die neue Akademie der Künste könnte gesellschaftlich geteilten Sinn und nationalen Zusammenhalt stiften!

Überhaupt scheinen die Versuchungen dahin zu gehen, dass man sich wieder allzu sehr einer idealistischen Betrachtung der Kunst erinnert. Adolf Muschg, Präsident der Akademie, benutzt in der Sonderveröffentlichung zur Eröffnung einschlägiges Vokabular. Kunst als „Praxis der Freiheit“, „Zweck-Freiheit des rechten Lebens“, Kunst „provoziert das Individuum zur Wahrnehmung seiner Autonomie“ – das sind Stichworte, die Friedrich Schiller in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ eingebracht hat; mit ihren Schiller-Feierlichkeiten hatte die Akademie neulich ja auch schon vorab einen großen Publikumserfolg – er scheint bei der Neueröffnung Pate zu stehen.

So eine Sicht, die den Bereich der Kunst insgesamt von einem Reich der Zwecke – sprich: Kapitalismus, Konsum, Heuschrecken – abgrenzt, eignet sich bestimmt ganz wunderbar zur Legitimierung von Kunstinstitutionen. Von der ästhetischen Debatte her ist sie ein gewaltiger Rückschritt. Dass die kritische Literaturwissenschaft der Siebzigerjahre, die den Kunstidealismus wieder und wieder als bürgerliche Ideologie entlarvte, offenbar ihre Hegemonie verloren hat, braucht man nicht nur zu bedauern. Aber hinweisen sollte man schon darauf, dass alles, was seit mindestens hundert Jahren Wert und Bedeutung in der Kunst hatte, gegen diese Autonomieästhetik immer auch Sturm gelaufen ist. Die Geschichte der Avantgarden war die Geschichte dieses Sturmlaufens. Im Künstlerroman der Berliner Republik, wie er sich heute Abend zeigt, scheinen die Avantgarden wieder einen schwereren Stand zu haben.

Die Versuchung geht vielleicht darüber hinaus dahin, dass die Berliner Republik ihren Künstlerroman unhinterfragt als Realität nimmt. Bei Sonntagsreden und Eröffnungsfesten schadet das zumindest nicht wirklich. In der Praxis wird man eine Akademie an so zentralem Ort anders betreiben müssen.