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Archiv-Artikel

Gerichtsspektakel à la Orwell

Die Verkündung des Strafmaßes im Prozess gegen den russischen Milliardär Michail Chodorkowski lässt auf sich warten. Die Richterinnen verlesen Akten und vertagen sich

MOSKAU taz ■ Nach einer Woche Urteilsverlesung im Prozess gegen den Milliardär Michail Chodorkowski und den Mitangeklagten Platon Lebedew haben die drei Richterinnen im Moskauer Meschtschanskij-Gericht gerade mal ein knappes Drittel des vor ihnen liegenden Schriftstapels abgetragen. Die Anwälte des ehemaligen Yukos-Eigentümers vermuten, dass sich die Urteilsverkündung noch mindestens zehn Tage hinziehen könnte.

Zur Terminierung macht das Gericht keine Angaben. Pünktlich jeden Mittag vertagen sich die Richterinnen. Nach russischem Prozessualrecht wird das Strafmaß erst am Ende der Urteilsbegründung bekannt gegeben. Bis zu zehn Jahren Arbeitslager erwarten die Beschuldigten. Mit einer gnädigeren Strafe rechnet niemand mehr, nachdem die Staatsanwaltschaft vor dem Prozessauftakt eine neue Klage hinterherschob.

Der Kreml scheint sicher gehen zu wollen, dass der Ölmagnat und ehemalige politische Herausforderer möglichst lange hinter Schloss und Riegel landet. Chodorkowski scheint sich darauf eingestellt zu haben. Am dritten Verhandlungstag malte er ein Unendlichkeitszeichen in die Luft.

Dass die Angeklagten in allen sieben Punkten der Anklage schuldig sind, steht bereits fest. Das Gericht folgte der Vorlage der Staatsanwaltschaft, die den Ex-Oligarchen in elf Fällen Verstöße gegen sieben Paragraphen des Strafgesetzbuches zur Last legte. Darunter Steuerhinterziehung, Betrug, Geldwäsche und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Wer außer den Inhaftierten der kriminellen Vereinigung noch angehört, konnte das Gericht „nicht feststellen.“

Dies war wohl unfreiwillige Komik, die dieser Orwell’schen Veranstaltung anhaftet. Die Richterinnen lesen so leise, als sollten die Anwesenden den Ausführungen gar nicht folgen können. Chodorkowski blättert in einer Zeitschrift, Lebedew löst Kreuzworträtsel, die Zuhörer kämpfen mit dem Einschlafen.

Am vierten Verhandlungstag ermahnte die Richterin Irina Kolesnikowa den Anwalt Jurij Schmidt zu mehr Achtung vor dem Gericht, weil dieser in einer Zeitung blätterte. Schmidt erkennt in dem Urteil nichts Neues. „Es ist die Anklageschrift einschließlich der Fehler.“ Wenn alle Entlastungsmomente der Verteidigung vom Gericht übergangen würden, sei die Frage, warum die Anwälte teilnehmen. Schmidt beklagte auch, dass entlastende Aussagen von den Richtern in belastende Beweise umgemünzt worden seien.

Nach fünf Verhandlungstagen verstärkt sich der Eindruck, das Gericht wolle mit der Verschleppung des Urteils und der Materialmasse der Öffentlichkeit lediglich ein ordnungsgemäßes Verfahren suggerieren. Dazu passt auch: Russische Journalisten wollen Demonstranten, die vor dem Gericht mit Transparenten auf- und abmarschieren, die die Verurteilung Chodorlowkis fordern, vorher beim Verlassen der FSB-Geheimdienstzentrale gesehen haben. Milan Horacek, der als Beobachter des Europaparlaments an der Verhandlung teilnahm, hält deren Verlauf für ein „klares Signal der Rechtsunsicherheit in Russland“. Der Fall zeige, was für ein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in Russland herrsche. KLAUS-HELGE DONATH

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