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Archiv-Artikel

Freak Scene

Sahen aus wie degenerierte Wanderprediger, spielten aber ein buntes, ansprechendes Konzert: Arcade Fire aus Kanada im Berliner Postbahnhof

Selbst über den schwermütigen Balladen von Arcade Fire liegt noch eine positive, euphorische Stimmung

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Seit Monaten konnte man schon Sensationsmeldungen über die neue kanadische Indie-Offenbarung Arcade Fire lesen: 100.000 Cds über ein Indie-Label verkauft! Billboard Charts geknackt! David Byrne und Bowie waren beim Arcade Fire Konzert gesehen worden!

Euphorie allerorten, und auch wer dem Hype misstraute, war nach dem Hören des Debütalbums „Funeral“ begeistert. Da konnte man nur noch Nebensächlichkeiten bemängeln, zum Beispiel, dass die gerade unter US-Musikern und Schauspielern weit verbreitete Unsitte des Heiratens nicht vor Arcade Fire Halt gemacht hatte. Die Band gruppiert sich nämlich um ein junges Ehepaar. Und wenn auch in englischen Publikationen über das geheimnisvolle Husband-Wife-Songwriting fabuliert wird, was gibt es Unglamouröseres als Eheleute in einer Band?

Arcade Fire gründeten sich 2003, als Win Butler aus Texas nach Montreal kam und dort Regine Chassagne kennen lernte. Man musizierte und komponierte zusammen, formierte eine Band, bald wurde das Debütalbum aufgenommen, zwischendurch noch geheiratet.

Auch inhaltlich macht sich bei „Funeral“ ein Hang zum Konservativen bemerkbar. Um Familie, Tod, die dunkle Seite der Kindheit, Erwachsensein, Elternsein und um die Suche nach Erlösung geht es da. Aber es gibt auch kleine, in sich geschlossene Geschichten, über den Stromausfall in Montreal zum Beispiel.

Bowie und Byrne wurden Freitagabend beim Berlinkonzert von Arcade Fire nicht gesichtet, aber erstaunlich viele englisch sprechende Menschen waren da. Der Postbahnhof wirkt ja wie eine große Scheune, und so machte sich bald eine gewisse countryeske Hemdsärmeligkeit breit, das Bier floss, draußen standen Holzbänke, es wurden Würste gegrillt.

Als die Vorband Final Fantasy, ein jungenhafter Typ mit übervollem weizenblondem Haar und einer Geige, auf die Bühne kam, wollte man schon das Schlimmste befürchten. Aber Owen Pallat, der Gastgeiger bei Arcade Fire und sonst bei den Hidden Cameras tätig ist, begleitete interessant mit der Violine seine Samples und sang dazu.

Dann aber kommen Arcade Fire unter großem Jubel auf die Bühne und wirken dabei in ihren angestaubten, ausgebeulten Anzügen wie eine Schar degenerierte Wanderprediger, oder fahrende Zirkusleute oder eben wie eine verschrobene Musikersekte.

Acht Leute legen los an Akkordeon, Geigen, Kontrabass, Gitarren, Bass Melodica und Glockenspiel, Schlagzeug und Keyboard und die besondere sperrige Eingängigkeit der Arrangements und außergewöhnliche Dramaturgie und Dynamik entfaltet sich vom ersten Stück an.

Plötzlich hört man alles raus, was andere schon rausgehört haben: Talking Heads, Cure, Pixies. Dabei liegt selbst über den schwermütigen Balladen eine positive, euphorische Stimmung, auch das Theatralische wird nie lähmend-elegisch und die Streicher nie zu süßlich, weil die Gitarren laut krachen.

Die Perkussionisten und Keyboarder agieren vom ersten Stück an völlig durchgeknallt und veranstalten einen wilden Zinnober, bei dem ein Motorradhelm eine tragende Rolle spielt. So ekstatisch das Deppeninstrument Tamburin schlagen kann sonst eigentlich nur, wer unter starken Drogen oder in religiöser Verzückung steht! Die Instrumente werden ständig getauscht, nach den Stücken wuseln die Musiker im Bäumchen-wechsel-dich-Spiel über die Bühne, es gibt keinen Gitarrenstimmer oder „Backliner“, und so folgt jedem Lied ein heiteres, schnelles Instrumentesuchen, Saitenstimmen, Töneanspielen, Zupfen und Mikrofoneverstellen. Chefdramaturg Win Butler hält die ganze freakige Familie zusammen. Bei seinem markanten Gesang dominiert das leicht Hysterisch-Wavige, meistens shouten aber alle Musiker zusammen, wer grade kein Mikrofon hat, singt trotzdem lautstark mit, die Geiger rufen in die Tonabnehmer ihres Instruments.

Das Konzert hat also durchaus die versprochenen magischen Momente, auch wenn man nicht wie angekündigt, ständig vor Ergriffenheit in Ohnmacht fallen oder vor Begeisterung durchdrehen will. Vielleicht verhindern manchmal allzu große Erwartungen den eigenen Überraschungseffekt, aber schön war es doch.