: Richtlinienentscheidung für die Chemie
EU-Streit: Soll der Hersteller die Ungefährlichkeit von Chemikalien beweisen oder eine Agentur die Gefährlichkeit?
BRÜSSEL taz ■ Die Chemikalienverordnung Reach gehört zu den umstrittensten Vorschlägen der EU-Kommission. Heute könnte jedoch eine Vorentscheidung fallen – zumindest was die Haltung des Europäischen Parlaments angeht, das in diesem Fall mit entscheidet. Sowohl der Binnenmarkts- als auch der Industrieausschuss stimmen über die entsprechenden Berichte ab.
Die Kommission hatte bereits im Oktober 2003 ein umfassendes europaweites Registrierungsverfahren für alle chemischen Stoffe vorgeschlagen, um die Verbraucher vor möglichen Risiken zu schützen – sehr zum Ärger der Chemielobby, die zu hohe Kosten befürchtet. Umstritten ist vor allem, nach welcher Methode die Chemikalien zentral angemeldet und registriert werden sollen.
Während die EU-Kommission und Umweltverbände die Frage, welche Daten sie erheben wollten, von der produzierten Menge eines Stoffs abhängig machen wollen, fordert die Chemieindustrie einen so genannten risikobasierten Ansatz. Unterstützt wird sie von deutschen Unions-Abgeordneten im EU-Parlament.
Nach dem Kommissionsvorschlag würde die Zahl der erforderlichen Informationen mit der jährlich produzierten Chemikalienmenge steigen. Der Clou bei dem Vorschlag: Die Menge ist einfach zu ermitteln, die Beweislast liegt beim Hersteller. „Der muss von Anfang an Testergebnisse vorlegen, Risiken identifizieren und angeben, wie er sie beherrschen will“, sagt Mecky Naschke vom Europäischen Umweltbüro. Damit sei die Registrierung sehr schnell möglich.
Der CDU-Abgeordnete Helmut Nassauer schlägt dagegen vor, die Datenmenge von der Gefährlichkeit der Stoffe abhängig zu machen. Er möchte die Anforderungen danach staffeln, ob ein Stoff für den Menschen nur über Hautkontakt schädlich ist oder schon beim Einatmen. Der Nachteil: Die Gefährlichkeit müsste gegebenenfalls von der Chemie-Agentur geprüft werden, nach Nassauers Vorschlag innerhalb von drei Jahren. Die Beweislast läge nicht beim Hersteller, die Registrierung würde vermutlich wesentlich länger dauern. „Jede Entscheidung der Agentur ist anfechtbar“, sagt Naschke.
Unterstützung haben Kommission und Umweltverbände überraschenderweise von einer von der Industrie finanzierten Studie bekommen, die kürzlich veröffentlicht wurde. Die Experten untersuchten die Auswirkungen des Kommissionsvorschlags für die Autoindustrie, die Hersteller von elektronischen Geräten und Verpackungen sowie für die Metallindustrie. Danach ist es „unwahrscheinlich“, dass die von Reach verursachten Kosten Chemikalien vom Markt drängen würden. Denn die Kosten für die Registrierung fielen nur einmal an und könnten in Raten bezahlt werden. Auch Standortverlagerungen seien „unwahrscheinlich.
Sogar EU-Wettbewerbs-Kommissar Günter Verheugen, bekannt für seine kritische Haltung zu jeder Reglementierung, hatte nach der Studie erklärt, dass „Reach die europäische Chemikalienindustrie nicht ruinieren würde“. RUTH REICHSTEIN