Schwimmende Zeitmaschine

ERINNERUNG In seinem großartigen neuen Roman „Katzentisch“ erzählt Michael Ondaatje von drei Wochen auf einem Schiff und entwirft dabei einen staunenswert weiten Erzählkosmos

„Erinnerungsarbeit“ ist ein zu unschöner Ausdruck für etwas, das hier sanft hin und zurück schwappt

VON KATHARINA GRANZIN

Was ist ein Schiff? Weit mehr als ein schwimmendes Fahrzeug, das Menschen von A nach B befördert. Es ist, ähnlich wie ein Raumschiff, das ja auch seine Bezeichnung von ihm entlehnt hat, eine Art Zwischenreich, das vom erdenschweren Leben auf festem Boden nichts weiß. Es enthebt die Passagiere, die sich auf ihm befinden, für die Dauer ihres Aufenthalts auf seinen Planken ihrer alltäglichen Existenz. So lange die Passage dauert, hält es den linearen Lauf der Dinge an. Es ist eine große Zeitmaschine. Die Schiffsreise, die Michael Ondaatje („Der englische Patient“) in seinem neuen Roman schildert, ist auch in dieser Hinsicht als Metapher zu verstehen. Denn „Katzentisch“ ist auch, nein, ist vor allem: ein Buch über die Erinnerung, eine Passage durch die Jahrzehnte rückwärts.

Ein elfjähriger Junge namens Michael, Spitzname: Mynah (eine auf dem indischen Subkontinent gebräuchliche Bezeichnung für den sprachbegabten Vogel Beo), unternimmt in den fünfziger Jahren eine Schiffsreise von Ceylon nach England. Er soll dort seine Mutter wiedertreffen, die er mehrere Jahre nicht gesehen hat, und ab sofort in dem fremden Land zur Schule gehen. Michael fährt in ein anderes Leben. Auf dem Schiff trifft er auf zwei Jungen in seinem Alter, die gleichfalls nur sehr lose betreut unterwegs sind. Die drei Kinder schließen sich für die Dauer der Fahrt eng zusammen und treiben jenen experimentellen Unfug, der von Menschen ihres Alters zu erwarten ist. Bei den Mahlzeiten sitzen sie mit anderen Passagieren zusammen am „Katzentisch“, dem Tisch im Speisesaal, der von jenem des Kapitäns am weitesten entfernt liegt und an dem solche Passagiere platziert sind, die im Sozialgefüge der Schiffsgesellschaft die unbedeutendste Rolle spielen. Zumindest auf den ersten Blick. Mit fortschreitender Entwicklung des Erzählkosmos, den Ondaatje aus der zusammengewürfelten Gesellschaft im Zwischenreich entwirft, wird sich jedoch zeigen, dass jede der Personen am „Katzentisch“ über eine auf eigene Art außerordentliche Lebensgeschichte verfügt.

Der Junge Michael ist nicht identisch mit dem Autor beziehungsweise dessen jüngerem Ich. Auch der Ich-Erzähler sei, ebenso wie alle anderen Figuren dieses Romans, ein Produkt der Fiktion, lässt der Autor explizit in einer Nachbemerkung verlauten. Dass er es für nötig hält, diesen Umstand zu betonen, liegt auch daran, dass man während der Lektüre gar nicht anders kann, als sich unweigerlich immer wieder den Autor als Ich-Erzähler vorzustellen. Das rührt zum einen daher, dass, ganz abgesehen von der Namensgleichheit, der biografische Rahmen beider zu großen Teilen identisch zu sein scheint. Zum anderen drängt sich die Identifizierung deshalb auf, da das Sicherinnern in diesem Roman so spürbar intensiv erzählerisch gestaltet wird.

Wie Ondaatje das macht, ist nicht in zwei Sätzen zu beschreiben; es gibt keinen adäquaten Terminus für dieses intensive, Roman gewordene Evozieren längst vergangener Ereignisse. „Erinnerungsarbeit“ ist ein zu unschöner Ausdruck für etwas, das hier in Erzählkunst gegossen wird und das in sanften Wellenbewegungen hin und zurück durch die Jahrzehnte schwappt, wie durch transparente Lagen von Zeit, die sich stellenweise so übereinander legen, dass sie ganz und gar voneinander durchdrungen zu sein scheinen.

Auch Ondaatje hat seine Madeleines. Ein Besuch einer Kunstausstellung zieht eine ausgedehnte Erzählpassage über die nächtliche Durchquerung des Sueskanals nach sich. Ein Brief einer fast vergessenen Schiffsbekannten an den erwachsenen Erzähler eröffnet einen nachdenklichen Exkurs über das Vorleben jener Frau, die den drei Jungen auf dem Schiff immer verdächtig geheimnisvoll erschien. Doch das Evozieren einst erlebter äußerer Sinneserfahrungen spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Bei Ondaatje geht es vielmehr um das gleichsam nachträgliche Festhalten von flüchtigen zwischenmenschlichen Empfindungen, die zu schnell vorüber sind, um im erlebten Moment bewusst gespürt zu werden. Durch die Erinnerung erst werden sie zur wahren Empfindung. Oder, besser: durch die literarische Ver- und Erarbeitung ihrer Erinnerung.

Die Tiefenwirkung dieses Verfahrens wird dadurch verstärkt, dass die erlebende Person, das erinnerte frühere Ich des Ich-Erzählers, in weiten Teilen des Romans ein Kind ist. Das Erleben des Jungen vollzieht sich in naiver Unmittelbarkeit. Dass es ein ums andere Mal Grenzsituationen sind, die er durchlebt, kann der elfjährige Michael gar nicht wissen. Weder die Lebensgefahr, der er und sein Freund sich aussetzen, als sie sich während eines Sturmes ans Deck fesseln lassen, ist ihm in voller Tragweite bewusst, noch empfindet er moralische Skrupel dabei, einem Gelegenheitsdieb bei dessen Raubzügen in den Kabinen betuchter Passagiere zu assistieren. Auch das merkwürdig angenehme Gefühl, das der Junge spürt, als er mit seiner älteren Kusine Emily einen trägen Nachmittag in deren Kabine verbringt, kann er noch nicht als zart aufkeimende Erotik einordnen.

Diese Unmittelbarkeit des Erlebens bleibt erhalten. Ondaatje erzählt so detailreich und farbig, als erlebe der Erzähler das Erzählte im selben Augenblick nach. Mit Erinnerung scheint das auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben. Der Berichterstatter ist ganz bei dem Kind, das er einmal war; der Eindruck von außerordentlicher erzählerischer Tiefe und Reflektiertheit entsteht nicht durch einen direkten Erzählerkommentar. Es ist vielmehr diese gewisse penible Detailgenauigkeit in den erzählten Episoden selbst, die es uns, im Unterschied zum jungen Michael, ermöglicht, die Dinge in ihrer wahren Bedeutung zu sehen.

Zusätzlich eröffnet sich uns über die längere Erzählstrecke hinweg, durch den permanenten Wechsel und somit die gegenseitige Durchdringung verschiedener Zeitebenen, ein noch erheblich weiterer Bewusstseinskosmos. Wenn der erwachsene Erzähler von seiner gescheiterten Ehe mit der Schwester eines seiner Schiffsfreunde berichtet oder wenn er sich eine Ausstellung mit Sueskanal-Bildern des irgendwie verloren gegangenen dritten Freundes ansieht, der ein berühmter Maler geworden ist, so öffnet sich dahinter ein umfassender, an vielfältigen Lebensgeheimnissen reicher Reflexionsbogen. Dieser reicht nicht nur weit in der Zeit zurück, sondern streckt seine unsichtbaren Enden auch in eine noch unbekannte Zukunft.

Drei Wochen hat die Schiffspassage des Jungen Michael gedauert, drei Wochen, die in diesem Roman über das Sicherinnern zum Sinnbild eines ganzen Menschenlebens geworden sind. Ja, das ist es. Dafür braucht man die Literatur.

Michael Ondaatje: „Katzentisch“. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2012. 304 Seiten, 19,90 Euro