: Schrecken des Schulhofs
Jacob Estes’ Spielfilm „Mean Creek“ ist eine nuancenreiche Studie jugendlichen Gruppenverhaltens, bei der am Ende sogar Sympathie für den Tyrannen bleibt
Der Schulhof ist im Allgemeinen ein Ort voll unguter Erinnerungen. Nicht mehr unmittelbar unter der schützenden Aufsicht der Lehrer, aber auch noch nicht frei, sich davonzumachen, sammelt man hier erste schlimme Erfahrungen unter seinesgleichen. Kaum ein sozialer Zusammenhang verfährt grausamer mit den Einzelnen als die Zwangsgemeinschaft von Jugendlichen. Für den „Bully“, den Drangsalierer und Tyrannen, gibt es im Deutschen kein vergleichbar einprägsames Wort. Was nicht bedeutet, dass es das Phänomen bei uns nicht gäbe.
In Jacob Estes’ Film „Mean Creek“ bietet Sam (Rory Culkin) für jeden „Bully“ ein willkommenes Ziel: ein bisschen zu klein ist er für sein Alter, schamvoll-schüchtern, ein genauer Beobachter seiner Umwelt. Paradoxerweise ist es wohl gerade die soziale Geschicklichkeit, die mit solch sensitiven Eigenschaften einhergeht, die den Schulhoftyrannen George (Josh Peck) so provoziert. Fast zweimal größer als Sam, fettleibig und von unleidigem Temperament, macht sich George immer wieder über ihn her.
Die Handlung kommt in Gang, als Sams älterer Bruder Rocky (Trevor Morgan) von diesen Attacken erfährt. Rocky hat gerade erst den Schulabschluss hinter sich, ist aber noch nicht ganz angekommen in der Welt draußen. Mit entsprechendem Eifer macht er sich an die Aufgabe, dem Schläger eine Lektion zu erteilen – mit High-School-Streichen kennt er sich aus. Es müsse ein Weg gefunden werden, um George wehzutun, ohne ihm wirklich wehzutun, bittet Sam. Und Rocky entwirft zusammen mit zwei Freunden, die sich ebenfalls an der gefährlichen Schwelle zwischen Schule und Erwachsenenleben befinden, folgenden Plot: Sam soll George erzählen, er wolle sich mit ihm versöhnen und lade ihn deshalb auf eine Bootstour zu seinem Geburtstag ein. Auf dem Fluss unterwegs wollen sie George dann irgendwo nackt zurücklassen, auf dass er sich gedemütigt und alleine nach Hause durchschlage.
Doch dann akzeptiert George die Einladung mit Begeisterung. Und bringt auch noch ein teures Geschenk mit. Die darauf folgende halbe Stunde ist die spannendste des Films, eine so präzise und nuancenreiche Studie von jugendlichem Gruppenverhalten, wie man sie nur sehr selten im Kino zu sehen bekommt. Die Gruppe – außer Rockys Freunden ist auch noch Millie (Carly Schroeder) dabei, mit der Sam eine zarte erste Liebe verbindet – sitzt mit dem dicken, unangenehmen George im Auto, der förmlich vor Dankbarkeit darüber glüht, dass man ihn mitnimmt. Die Freude macht ihn nicht sympathischer, aber doch so menschlich, dass sich die Verschwörer ihrer falschen Freundlichkeit zu schämen beginnen.
Dem Zuschauer ergeht es ähnlich wie der Freundesgruppe: Je mehr man über George erfährt, desto schwieriger wird es, ihn auf den bösen Schulhoftyrannen zu reduzieren, der in die Schranken gewiesen gehört. Was auch daran liegt, dass seine Rolle nicht dem gewohnten Klischee entspricht: George ist nicht der typisch Unterprivilegierte, der aus der Position der Entbehrung nach oben tritt, sondern im Gegenteil, ein im Übermaß behütetes, reiches, verwöhntes dickes Kind mit klugem Kopf, sozial aber so ungeschliffen und unerfahren, dass er zwangsläufig abstößt. Die einzige „social skill“, die er sicher anzuwenden weiß, ist das Beleidigen. Sein Mundwerk wird ihm schließlich zum Verhängnis.
Mit Handkamera und fast ausschließlich bei natürlichem Licht gefilmt, liegt über „Mean Creek“ die Unruhe des Improvisierten. Wie von untergründiger Panik getrieben, schwenkt die Kamera von einem Gesicht zum nächsten. Was sie dabei einfängt, ist manchmal von atemberaubender Authentizität, besonders da, wo sie die Jugendlichen in ihrer ganzen Empfindsamkeit offenbart: gelähmt von widersprüchlichen Gefühlen, überwältigt vom Zwiespalt über die eigene Rolle in diesem grausamen Spiel.
BARBARA SCHWEIZERHOF
„Mean Creek“. Regie: Jacob Estes. Mit Ryan Kelley, Rory Culkin u. a. USA 2004, 89 Min.