piwik no script img

Archiv-Artikel

Suff, Subkultur und „Zone“

KREUZBERGER DICKICHT Am Berliner Maxim Gorki Theater hat Milan Peschel Sven Regeners Erfolgsroman „Kleiner Bruder“ zu einer hinreißend dynamischen Tour de Force verarbeitet

Hier dürfen sich heutige Kreuzberger und Restberliner Avantgardisten spiegeln

VON JAN SCHEPER

Die nächtliche Botschaft der Dame in Rot ist prägnant und ernüchternd. Auf der Party, teilt sie Frank und Karl mit, ginge es letztlich nur darum zu erkennen, dass man „gar kein Künstler ist“. Die 80er Jahre sind gerade angebrochen, Berlin ist eine geteilte Stadt, und in Kreuzberg ist, „irgendwo am Halleschen Tor“, irgendwie alles „scheißegal“. Allerdings ist das nett gemeint. Jeder kann hier machen, was er will – im autonomsten Utopieflecken der BRD. Jeder kann glücklich oder unglücklich werden.

Es ist eine der ernsten Szenen aus der Bühnenadaption des Romans „Der kleine Bruder“ von Sven Regener. Der 2008 erschienene Roman markiert das kurzweilige Mittelstück in der Hauptstadt-Trilogie des Element-of-Crime-Sängers. Der Schauspieler Milan Peschel (zuletzt grandios in Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“) hat ihn am vergangenen Sonntagabend emotionsgeladen und ungemein dynamisch auf die Bühne des vollbesetzten Maxim Gorki Theaters gehoben.

Das Stück stellt die zwei odysseeartig ineinander verwobenen Nächte vor, welche das rasante Ankommen von Regeners Alter Ego Frank Lehmann an der Spree erzählen. Peschel bleibt bei seiner zweigeteilten Theaterfassung nah am Buch: Frank (Paul Schröder) fährt, nachdem er sich per gefaktem Suizidversuch aus der Bremer Bundeswehr gemogelt hat, mit Punk-Kumpel Wolli (bestechend manisch: Michael Klammer) nach West-Berlin. Beide haben unterschiedliche Ziele. Frank will seinen älteren Bruder Manni, der sich als Schrottkünstler verdingt, besuchen. Wolli plant zu Beginn noch idealistisch einen Aufenthalt in der schon damals legendären Kreuzberger Hausbesetzerszene. Die Wege trennen sich auf der Reichenberger Straße, und Frank wird von Mannis Mitbewohner Karl (Ronald Kukulies) in Empfang genommen. In der Fabriketagen-WG an der „Pissrinne von Kreuzberg“ hausen noch der schwäbische Kneipier Erwin (pragmatisch: Peter Kurth), der alle mietezahlend durchfüttert, und dessen Nichte (zickig: Regine Zimmermann). Der große Bruder allerdings, den alle nur Freddie nennen, ist verschwunden.

Was für den kleinen Bruder folgt, ist eine ebenso herbe wie schnelle, 48 Stunden währende Wanderung durch Suff, Subkultur und „Zone“, die laut, fragil und zeitweilig ungemein unterhaltsam ins Publikum schwappt. Kurz: ein wegweisender Identitäts-Crashkurs für den späteren Herrn Lehmann, während David Bowie vom Band seine Eintagshelden besingt. Wenn auch aus der bürgerlichen Hansestadt geflohen, bemüht er sich rege, Fragmente gesellschaftlicher Norm ins anarchische Berliner Exil herüberzuretten.

Die sich unaufhörlich selbst zitierende Kreuzberger Avantgarde um den Komponisten H.R. des Synthie-Duos „Dr. Fotz“ (großartig: Holger Stockhaus) klopft dem Neuankömmling aber bald die akkuraten Flusen aus dem Protest-Parka. Ästhe- tik ist für H.R., hinter dem ebenfalls eine bürgerliche Fassade lauert, Selbstzweck, und seine Band-Kollegin Almut (Sabine Waibel) liefert das aggressive Programm dazu: „Ich bremse nicht für Erkenntnis.“ Ungemein ausgefeilt, wenn auch gelegentlich etwas holprig sind die Perspektivenspiele, die Peschel dem Stück verordnet. Immer wieder wird die personale Erzählstruktur des Romans gebrochen, dann wieder Zeile für Zeile, quasi laut gelesen.

Offenkundig regieren die körperlichen und verbalen Dichotomiegefechte das Stück, in dem eigentlich das Ensemble der Hauptdarsteller ist. Packend an Peschels Umsetzung ist aber deren anachronistische Qualität. Auch wenn Bühnen- und Kostümbildnerin Magdalena Musial ihre DarstellerInnen herrlich treffend in die 80er packt, könnte es das Drama auch nahtlos ins Hier und Jetzt schaffen.

In Aversionen und Assoziationen der Figuren dürften sich heutige Kreuzberger und Restberliner Avantgardisten, von einem strahlenden Kunstpanzer verschalt, süffisant spiegeln.

Aus dem dreistündigen amüsanten Kreuzberger Dickicht fühlt man sich „dem menschlichen Element“ Frank Lehmanns dann am nächsten, wenn einen der von Bühnenmusikerin Maike Rosa Vogel hinreißend intonierte Black-Coversong „Wonderful Life“ trifft: „Look at me standing here on my own again up straight in the sunshine“. Für diese Erkenntnis lohnt es sich zu bremsen – Künstler sein hin oder her.

■ Sven Regener: „Der kleine Bruder“. Bearbeitung von Milan Peschel, Maxim Gorki Theater. Nächste Vorstellungen: 5. und 17. 4.