: Zwei eisige Lippen und ein Hauch von Schnee
HIGH SOCIETY Madame stirbt an gebrochenem Herzen: zum 110. Geburtstag der Schriftstellerin Louise de Vilmorin und ihrem gefeierten Roman „Madame de“
Sie schrieb über die High Society ihrer Zeit und bildete selbst deren Mittelpunkt: Louise de Vilmorin. Die französische Schriftstellerin war reich, elegant und anziehend. Mit diesen Eigenschaften ließe sich ebenso ihre Romanfigur „Madame de“ beschreiben. Eine adelige Dame ohne Namen, die „großen Gefallen daran fand, zu gefallen“. Zum 110. Geburtstag von de Vilmorin ist ihr bekanntestes Werk nun auf Deutsch im Dörlemann Verlag erschienen.
Ihr dynamisches Leben begann am 4. April 1902 in der Nähe von Paris. In dem kleinen Ort Verrières-le-Buisson wurde sie als einzige Tochter einer wohlhabenden Adelsfamilie geboren. In diesem Milieu wuchs sie zu einer unabhängigen Frau und schillernden Persönlichkeit heran. De Vilmorin war sehr gebildet – sie sprach mehrere Sprachen und interessierte sich für Kunst und Literatur. Während ihres Studiums in Paris begegnete sie dem noch unbekannten Antoine de Saint-Exupéry. Die beiden verliebten sich und wollten heiraten. Doch de Vilmorin löste die Verbindung überraschend auf und entschied sich wenig später für den reichen amerikanischen Immobilienmakler Henry Leigh Hunt. Ihre glücklichsten Jahre verlebte die inzwischen dreifache Mutter jedoch in zweiter Ehe mit einem französischen Playboy. Allerdings hielt auch diese Ehe nicht lange.
Gesellschaftlich war de Vilmorin äußerst angesehen. Sie veranstaltete regelmäßig literarische Salons, die die Elite des Frankreichs der 1950er kannte und liebte. Im Stammhaus ihrer Familie versammelte die Schriftstellerin führende Künstler und Intellektuelle um sich. Persönlichkeiten wie Coco Chanel, Jean Hugo oder Maria Callas wollten dabei keinesfalls fehlen. Die Veranstalterin selbst war sehr umschwärmt – zu ihren Liebhabern gehörten Jean Cocteau oder André Malraux.
Das bunte, intellektuelle Treiben in ihrem Haus lieferte de Vilmorin wohl genügend Stoff für die eigenen literarischen Werke. Darin entlarvt sie die Eigenarten jener gesellschaftlichen Klasse, in der sie selbst so erfolgreich verkehrte. In schlichten Worten und mit ironischem Unterton zeichnet sie ein amüsantes, aber nicht unkritisches Bild der Bourgeoisie ihrer Zeit. Mit dem Roman „Madame de“ wurde die Schriftstellerin über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. Es ist die Geschichte einer eleganten Dame, die „in ihrer Gesellschaft den Ton“ angibt. Doch die mit Schmuck und hübschen Kleidern ausstaffierte Schönheit ist teuer und so verschuldet sich Madame de hoffnungslos. In ihrer Not verkauft sie, ohne das Wissen ihres Mannes, ein Paar Brillant-Ohrringe, gibt aber vor, diese verloren zu haben. Damit stolpert die Madame in ein Labyrinth voller Lügen, Missverständnisse und enttäuschter Liebe. Lakonisch und leicht kreiert de Vilmorin dieses narrative Gestrüpp – und der Leser schaut den Figuren amüsiert zu, wie sie sich darin verirren.
Die Fantasie fordern
Das ist sehr amüsant, aber die Worte scheinen an der Oberfläche zu verharren. Die Charaktere werden fast ausschließlich in konkreten Situationen oder durch ihr Handeln beschrieben, während ihre Gedanken und Gefühle verborgen bleiben. Doch gerade dieser knappe Stil fordert die Fantasie des Lesers: „Es gab nur noch sie beide, ihr bisheriges Leben erlosch, und als die Uhr halb acht schlug, kam Madame de seufzend wieder zu sich.“
An anderer Stelle verwandelt de Vilmorin präzise Beschreibungen in Poesie. Etwa wenn „zwei eisige Lippen und ein Hauch von Schnee, aus einem Bart rieselnd“, die Hand von Madame de berühren. Doch hinter diesen hübschen, klaren Worten schauen Abgründe hervor. Was als heiteres Verwirrspiel begann, endet tragisch – die Madame stirbt schließlich an gebrochenem Herzen.
1953 wurde die Geschichte der Madame de mit großem Erfolg von Max Ophüls verfilmt. Schon wenige Jahre später allerdings galten die Themen und der Schreibstil de Vilmorins als nicht mehr zeitgemäß. Nun, zu ihrem 110. Geburtstag, kann die französische Schriftstellerin mit ihrem bekanntesten Werk wiederentdeckt werden.
ANDRIN SCHUMACHER
■ Louise de Vilmorin: „Madame de“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, Dörlemann Verlag, Zürich 2012, 128 Seiten , 15,90 Euro