: Weil Anderssein kein Spiel ist
LEHRSTÜCK Die Aktion „Gesicht zeigen!“ organisiert ungewöhnliche Geschichtsstunden für SchülerInnen: In der Mitmachausstellung „7xjung“ geht es um Mobbing und Ausgrenzung im Alltag der Jugendlichen, aber auch um Diskriminierung und Terror unter den Nazis
■ Ausstellung Die Ausstellung „7xjung – Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt“ soll bis 2014 in den S-Bahn-Bögen nahe dem S-Bahnhof Bellevue zu sehen sein.
■ Verein Sie ist ein Projekt des Vereins „Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland“. Er ermutigt Menschen, gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und jede Form rechter Gewalt aktiv zu werden. Ziel sind die Stärkung des gesellschaftlichen Engagements und die Sensibilisierung für jede Art von Diskriminierung.
■ Kosten Durch Sponsoren, die die Aktion finanzieren, liegt die Eigenbeteiligung der teilnehmenden Kassen derzeit bei 40 Euro pro Gruppe. BetreuerInnen von Schulklassen ab Jahrgangsstufe fünf sowie von Jugendgruppen können über die Homepage Termine vereinbaren: www.7xjung.de.
VON ANNA KLÖPPER
Es ist Freitagmorgen kurz nach neun, und Bernhard Kerber drückt einer Gruppe verschlafener SchülerInnen Kleiderbügel aus Draht in die Hände. „Ich möchte, dass ihr euer persönliches Totem, euer Erkennungszeichen formt“, sagt der Pädagoge. Die elf kommen von der Jugendmanufaktur, einem Schulverweigererprojekt in Tempelhof-Schöneberg. Sie fangen an zu biegen, erst lustlos, dann immer motivierter. Am Ende sieht kein Bügel mehr aus wie der andere.
Genau darum – um Anderssein – geht es an diesem Vormittag: In diesem Workshop von „7xjung – Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt“ will Kerber den 14- bis 17-Jährigen die Mechanismen von Mobbing begreiflich machen und ihnen dabei auch etwas über Terror, Antisemitismus und Rassismus in der NS-Diktatur erzählen. Hinter dem Projekt steht der gegen Fremdenfeindlichkeit engagierte Verein „Gesicht zeigen!“. Die Mechanismen der Ausgrenzung, so die Botschaft des Vereins, sind universell.
Obgleich 7xjung mit dem Zusatz „Künstlerische Ausstellung über den Holocaust“ daherkommt, ist hier keine Ausstellung im herkömmlichen Sinn zu sehen. Klassische museale Exponate aus der NS-Zeit finden sich kaum in den lichten, reduziert gestalteten Räumen unter der Stadtbahntrasse unweit des S-Bahnhofs Bellevue. Stattdessen bilden sieben Themenräume, die Namen tragen wie „Mein Sport“, „Mein Laden“ oder „Meine Stadt“, die heutige Alltagswelt von Jugendlichen nach.
Kissenberge und NS-Zeit
Es sind harte wie subtile Brüche, mit denen Terror und Bedrohung in die realistisch gestaltete Aktualität der Räume einfallen: In „Mein Zimmer“ etwa stapeln sich Kissenberge auf dem Teppichboden, an der Wand hängt ein Bushido-Poster. Und doch geht es auch hier um Geschichte, um die NS-Zeit, um Antisemitismus und Rassismus: In der Ecke läuft ein kleiner Fernseher – und zeigt einen Kurzfilm über ein Mädchen, das 1937 mit einem Kindertransport nach London verschickt wurde. In den vermeintlichen Speisekarten auf den Imbisstischen in „Mein Laden“ liest man den Brief eines jüdischen Gastwirts an den damaligen Polizeichef: Der Kaffeehausbesitzer, der das Hansa-Café unweit der jetzigen Ausstellungsräume betrieb, glaubte 1935 noch an den Rechtsstaat und beschwerte sich über marodierende Horden, die sein Café verwüsteten. Geholfen wurde ihm nicht.
„Uns war klar: Wir können nicht einfach von damals erzählen, wenn wir Bezüge zum heutigen Alltag der Jugendlichen herstellen wollen“, sagt Projektleiter Jan Krebs. Also habe man sich dem schwierigen Themenkomplex Holocaust und Diktatur von einer künstlerischen Seite genähert: „Was für heute wie für damals gilt, ist, dass wir alle in verschiedenen Kontexten zu Hause sind – wie in unserer Stadt oder in der Familie“, sagt der Historiker. „Das bilden wir hier nach.“
In Socken oder Pantoffeln haben es sich die SchülerInnen der Jugendmanufaktur auf den Kissen in „Mein Zimmer“ bequem gemacht. „Ist einer von euch schon mal gemobbt oder ausgegrenzt worden?“, fragt Kerber. Schweigen. Keiner will Bescheid wissen oder gar selbst in der Opferrolle gewesen sein. Die 17-jährige Michelle* gibt schließlich ein Stichwort: „Cybermobbing“, murmelt sie. Kerber bohrt nach, bald erzählt Michelle, sie sei auf der mittlerweile vom Netz genommenen Plattform „Isharegossip“ als Junkie bezeichnet worden. „Immer wieder, da haben alle mitgemacht. Das war richtig schlimm.“
Der gleichaltrige Dennis berichtet von einem früheren Lehrer: „Der hat gesagt, wir sind Nixkönner, Low-Menschen. Weil wir Afrikaner sind.“ – „Stimmt das?“, fragt Kerber. „Nee!“, Dennis und sein Bruder Marc sind empört. „Der wollte uns fertigmachen“, sagt Dennis. „Das ist Mobbing.“
Bernhard Kerber will, dass die Jugendlichen ein Rollenspiel einüben: Einer ist Opfer, einer Täter, einer schaut zu, ohne dem Opfer beizuspringen. Michelle, Lennart und Ayleen haben noch nicht angefangen, als sich eine reale Situation entwickelt: Lennart bewirft Michelle mit Papierkügelchen, Michelle sagt, er soll das lassen. Lennart macht weiter, Michelle geht auf ihn los. Lennart verzieht sich, die Kapuze tief im Gesicht, Michelle kann sich gar nicht beruhigen: „Der soll machen, was ich sage. Das Opfer.“
Bernhard Kerber will wissen, wie John sonst von der Gruppe behandelt wird. Schweigen, Füßescharren. „Der wird schon oft fertiggemacht“, sagt dann einer. „Der ist ja auch in Wirklichkeit immer das Opfer.“ Kerber fragt, warum John ausgegrenzt werde. „Wir haben keinen Respekt vor ihm“, sagt jemand. „Alles, was bei Mobbing eine Rolle spielt, ist hier passiert“, sagt Kerber. „Jemand wurde fertiggemacht und beschimpft, bis er sich dem Spiel einfach verweigert hat. Und andere haben nur zugeschaut.“
Dieselben Mechanismen
Dann überlegt Kerber mit den Jugendlichen, was Ausgrenzung und Diskriminierung unter dem Naziregime bedeutet haben könnten. Songül erzählt, dass sie im Raum „Meine Stadt“ alte Fotos von Parkbänken gesehen habe. „Da stand drauf: ‚Nicht für Juden‘.“ Die Jugendlichen begreifen: Die Mechanismen von Terror und Diskriminierung sind mit der NS-Zeit nicht verschwunden. Sie funktionieren auch in ihrem kleinen Kosmos von Pausenhof, Familie und Freundeskreis.
Gegen Ende schickt Kerber die Jugendlichen noch mal durch die Räume. Marc sitzt in sich versunken unter den Porträtfotos einer Wasserballmannschaft. Die fotografierten Jungen sind etwa so alt wie er selbst. Marc, selbst begeisterter Sportler, hat sich über Kopfhörer die Geschichte eines Mädchens angehört. Sie berichtet, dass sie nicht mehr in den Turnverein kommen darf – weil sie Jüdin ist. Hinterher erzählt Marc seinen Mitschülern, was er gehört hat. Die Geschichte spielt in einer scheinbar fernen Zeit, und doch hören alle gebannt zu.
Reichen vier Stunden Workshop, um die Jugendlichen für Diskriminierung und Ausgrenzung zu sensibilisieren? „Wir können nur Impulse geben“, sagt Jan Krebs. „Es liegt auch an den Pädagogen in der Schule, was sie daraus machen.“ Und an den Jugendlichen: Ein Schriftzug über dem Ausgang gibt ihnen auf den Weg: „Everybody can be a change agent“ – zu Deutsch etwa: „Jeder kann etwas verändern.“
*Alle Schülernamen geändert