: „Ein Linker bin ich nicht“
GRÜNER Winfried Kretschmann über Kleinbürgertum, Philosophie, seine Flüchtlingsfamilie, eine fürchterliche Internatszeit – und über sein gutes Leben als Schwabe durch und durch
■ Weg: Kretschmann, 63, verheiratet, drei Kinder. Wird 1948 im schwäbischen Spaichingen geboren, Sohn eines Lehrers, der mit der Familie aus dem heute polnischen Ermland flüchtete. Studiert an der Uni Hohenheim, arbeitet als Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik in Baden-Württemberg. Während des Studiums zwei Jahre in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. 1979 gründet er die Grünen in Baden-Württemberg mit, im nächsten Jahr zieht er in den Landtag ein. 2002 Grünen-Fraktionschef. Seit 12. Mai 2011 erster grüner Ministerpräsident.
■ taz.lab-Gast: Kretschmann kommt zum taz.lab „Das gute Leben“ nach Berlin, wo ihn Peter Unfried und Jan Feddersen befragen. 14. April, 14 Uhr im Haus der Kulturen der Welt.
INTERVIEW NADINE MICHEL UND PETER UNFRIED
Im Osten Stuttgarts, am Hang des Hügels namens Bopser, liegt die Villa Reitzenstein. Amtssitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Drinnen hängen die Porträts seiner Vorgänger – nur Oettinger und Mappus fehlen. Draußen im Park steht ein Tisch in der Frühlingssonne, mit grandiosem Blick hinunter in den Kessel. Vöglein zwitschern. Glocken läuten. Und jetzt kommt, leicht gebeugt wie stets, der Ministerpräsident aus der Villa heraus und setzt sich auf einen Platz im Schatten.
sonntaz: Herr Ministerpräsident Kretschmann, ein hohes politisches Amt hat noch keinen Menschen zum guten Menschen gemacht. Sehen Sie das als Opfer, das Sie bringen?
Winfried Kretschmann: Das kann ich nicht bejahen, sonst würde ich mich ja lächerlich machen. Ich sage mal so: Ein Opfer ist es nicht. Aber es ist schon Pflicht und nicht einfach nur Neigung. Dazu muss man einfach wissen, dass ich nicht in die Politik gegangen bin, um Ämter anzustreben, sondern um die Welt zu verändern.
Was hat Sie dazu getrieben, Ministerpräsident zu werden?
Das ist sehr banal: Ich hatte eigentlich vor, im Laufe der vergangenen Legislaturperiode mein Amt als Fraktionsvorsitzender aufzugeben. Ich hatte Boris Palmer als meinen Nachfolger im Kopf. Doch dann wurde Palmer überraschend Oberbürgermeister von Tübingen. Alle stürmten auf mich ein, dass ich das noch mal machen müsse. Daraus hat sich eine Dynamik entwickelt, und jetzt bin ich Ministerpräsident.
Was hat das Amt mit dem Mann gemacht?
Manchmal spüre ich erst am Wochenende, dass alles noch mit mir in Ordnung ist. Die Biegekräfte eines solchen Amtes sind gewaltig, das gebe ich zu. Ich muss den Laden zusammenhalten, ich muss mich mäßigen, um des Friedens willen. Man kann nicht klar reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Aber man muss auch aufpassen, dass man keine gestanzten Phrasen von sich gibt. Das verlangt viel Disziplin. Und das ist anstrengend.
Was ist mit dem Ruhm?
Irgendwann springen wir alle in die Kiste. Und ob ich da berühmt war oder nicht, man zerfällt so oder so zu Staub.
Na ja.
Natürlich muss ich ab und zu meine katholische Demut mobilisieren, damit ich nicht denke, ich sei was Besonderes. Und sicher, der erste grüne Ministerpräsident ist eine historische Figur, ob ich das nun will oder nicht. Aber das lastet auch als Druck auf den Schultern. Weil ich Leute enttäuschen muss, zum Beispiel die harten Stuttgart-21-Gegner, die diese Volksabstimmung nicht akzeptieren können.
Wenn Sie aber keine Zeit mehr zum Studieren der Philosophinnen haben, für die Familie oder zum Wandern: Wo bleibt da das gute Leben?
Zum Wandern habe ich noch Zeit und die nehme ich mir auch. Für andere Dinge fehlt sie. Ich habe kürzlich über das Unterrichtsfach „Glück“ gelästert. Kurze Zeit darauf erhielt ich einen bösen Brief von der Lehrerin, die das organisiert. Ich hatte lediglich geäußert, dass es mich bei dem Gedanken „Glück als Schulfach“ gruselt.
Warum das denn?
Ich habe – dezidiert als meine persönliche Meinung – gesagt, dass der Mensch zur Freiheit berufen und nicht für das Glück gemacht ist. Ich bin auch lieber glücklich als unglücklich, aber ich glaube nicht an das menschliche Glück. Wir sind nun mal aus dem Paradies vertrieben. Und davor steht ja der Engel mit dem Flammenschwert. Diese Geschichte sagt uns: Du kommst im Hier und Jetzt auf keinen Fall wieder rein. Aber die Sehnsucht nach diesem Reich der Fülle bleibt. Und wir wissen zugleich, dass wir es nicht erreichen, dass es menschliches Glück nur in Augenblicken gibt. Dafür hat uns die Vertreibung aus dem Paradies mit der großen Gabe der Freiheit beglückt.
Diese Vertreibung und Übertragung der Eigenverantwortung war im Grunde schon eine Absage an die SPD?
Diese Deutung ist vielleicht doch zu politisch.
Fürs Protokoll, ein Linker sind Sie nicht?
Nein. Ein Linker bin ich nicht.
Sozialrevolutionär?
Nein.
Radikaler Umweltschützer?
Schon eher.
Großbürger?
Nein!
Kleinbürger?
Ja.
Woran machen Sie das fest?
Ich komme aus einem kleinbürgerlichen Haushalt, ich bin kleinbürgerlich sozialisiert, und mir gefallen Dinge, die einem Kleinbürger gefallen, wie zum Beispiel Wandern gehen.
Sie sind doch auch ein Intellektueller!?
Auf der Kopfseite bin ich hoffentlich kein Kleinbürger, sondern mehr von meinem Lebensstil her: Heimwerken, das machen ja nun Millionen anderer Männer auch. Und zwar mit Leidenschaft.
Wie finden es Ihre Landsleute, wenn Sie denen mit Sokrates und Hannah Arendt kommen?
Die Gedanken großer Geister sind nicht für Intellektuelle oder Sonntagsreden da, sondern damit wir unserem Alltag Sinn einimpfen. Außerdem hole ich die ja nicht morgens aus dem Zitatenbuch. Bei Philosophen, die mich leiten, wie Hannah Arendt oder Jeanne Hersch, beruhen meine Gedankengänge auf deren Fundament.
Sie machen also Ihre Quellen transparent?
Im Kern schon. Die Gefahr ist eher, dass ich Gedanken von ihnen verwende, ohne sie kenntlich zu machen. Die entscheidende Herausforderung ist: Wie gehe ich einen weiteren Schritt in Richtung Bürgergesellschaft und gestalte trotzdem? Ich wüsste nicht, wie ich das ohne den Machtbegriff von Hannah Arendt voranbringen könnte. Ihr Buch „Macht und Gewalt“ gibt hier Orientierung. Gerade für mich, der in seiner Jugend an Mao-Sprüche geglaubt hat wie: Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen. Hannah Arendt war unglaublich wichtig, nicht nur, um von Gewaltmystik und dem Linksradikalismus wegzukommen, sondern auch um Amtsgewalt nicht mit politischer Macht zu verwechseln.
Wir dachten, Ihre Frau hätte gesagt: Lass den Schmarren?
Hat sie auch. Die hat meine linksradikale Phase immer für Quark gehalten. Man braucht halt geistige und handfeste Unterstützung. „Macht und Gewalt“ hat mich auch durch die Grünen durchgetragen. Es hat mich gelehrt, durchzuhalten und bei den fundamentalistischen Anwandlungen nicht irgendwann zu sagen: Also, diesen Tüttelkram hab ich satt, jetzt geh ich doch lieber zur SPD oder CDU. Das war wichtig. Die Grünen sind heute eine Partei, mit der ich nicht – wie in diesen Zeiten – im Unfrieden bin.
Kamen Sie zu den Grünen oder die zu Ihnen?
Ich habe sie mitgegründet. Der Bütikofer hat an meinem 50. Geburtstag gesagt, dass ich für mich beanspruchen könnte, dass die Grünen mehr mir gefolgt sind als ich ihnen. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber es hat mir geschmeichelt.
Die führenden Grünen Baden-Württembergs sind nach Berlin gegangen, um dort mitzumischen. Über Sie hieß es stets: „Für den Winfried wäre das nichts.“
Stimmt. Ich bin ein Provinzpolitiker durch und durch. Wenn ich in Berlin bin, denke ich auch heute noch jedes Mal: Wie schön ist es in Baden-Württemberg! Dieses interessenstaktische Geflecht ist mir abhold. Ich war ja mal zwei Jahre im Parteirat in Berlin. Aus dem bin ich gerne wieder rausgegangen.
Könnte sich der Politiker Kretschmann zur Not in Berlin durchsetzen?
Da habe ich so meine Zweifel, wenn ich Kurt Beck oder Matthias Platzeck ansehe. Zu der Sorte gehöre ich ja irgendwie. Wenn man am falschen Ort ist, richtet man nichts aus oder scheitert.
Viele sind aus Baden-Württemberg geflohen; nicht nur vor der CDU, sondern auch vor der Kirche, dem Wanderverein, dem Schützenverein. Sie standen da immer drauf. Unbegreiflich.
Ich habe ja gesagt, dass ich ein Kleinbürger bin.
Herr Ministerpräsident!
Nein, Baden-Württemberg ist in Wirklichkeit ein höchst interessantes und spannendes Land. Meine These lautet: Man braucht immer den zweiten Blick. Fliehen tut man, wenn man im ersten Blick verharrt.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die katholische Kirche: Erst beim zweiten Blick merkt man, dass sie in diesem Flecken immer höchst aufmüpfig war. Und dann gibt es da einen wunderbaren Spruch: „Der Schelling und der Hegel, der Schiller und der Hauff, das ist bei uns die Regel, das fällt hier gar nicht auf.“ Baden-Württemberg ist ein Land voller Dialektik. Bei Stuttgart 21 ist es jetzt offenbar geworden, dass wir hier noch was anderes machen, als bloß am Samstag die Treppe von oben nach unten zu kehren.
Sind Sie auch deutscher Patriot?
Sag’ mer so: Ich lieb mein Land schon. Aber ein nationaler Patriot bin ich nicht. Das wäre im Südwesten auch verschroben, weil wir vermutlich mit den Schweizern oder Österreichern mehr im Sinn haben als mit den Niedersachsen. Das sind einfach Realitäten. Der Nationalstaat ist nichts, was mich berührt.
Was berührt Sie dann?
Europa. Das ist neben der Ökologie die zweite Vision, die mich politisch antreibt. Für mich ist der Begriff „Europa der Regionen“ im Grunde sehr passend.
Ihre Eltern waren Flüchtlinge aus Ostpreußen und wurden von den Schwaben nicht freundlich aufgenommen. Hat das Kränkungen hinterlassen?
Bei mir überhaupt nicht. Ich kann mich erinnern, dass meine Oma richtig verzweifelt war, dass sie in Deutschland lebt und trotzdem die Menschen nicht versteht. Die hat damit gehadert, bis sie starb. Meine Eltern gingen zwar auf die Ermländer-Treffen, doch die waren religiös geprägt und wenig politisch. Mein Vater war der Ansicht, das ist vorbei, dahin kommen wir nie wieder zurück. Bei uns zu Hause war, heute würde man sagen, ein großer Integrationswille da. Da gab es einfach nichts anderes. Ich bin bei meinem Nachbarn mit aufgewachsen, der war Schmied und Bauer. Insofern bin ich ein Schwabe durch und durch.
Haben Sie sich als Reingeschmeckter womöglich überassimiliert?
Ich hab mich natürlich assimiliert, ja. Aber ich bin 1948 geboren, da war der Integrationsprozess schon fortgeschritten, auch auf dem Dorf. Ich habe mich nicht abgelehnt gefühlt und musste auch nichts kompensieren. Bei meinem älteren Bruder war das noch anders, der durfte nicht Ministrant werden, weil wir Flüchtlinge waren. Der hat das noch erlebt: Flüchtling als Schimpfwort.
Der klassische Achtundsechziger hat sich gegen seine – über die Nazizeit schweigenden – Eltern politisiert. Sie auch?
Mein Vater ist 1969 gestorben, da war ich gerade 20. Außerdem hatte ich mit ihm keine wirklichen Konflikte, weil er sehr liberal war. Mit meiner Mutter schon gar nicht. Meine Mutter war völlig unpolitisch. Ich habe eine sehr, sehr harmonische Kindheit gehabt. Mein Konflikt entstand im katholischen Internat in Riedlingen und nicht im Elternhaus.
Adornos „Nie wieder Auschwitz“ hat das Denken der Generation von Dutschke und der von Joschka Fischer geprägt, daher die Furcht nach dem Mord an Benno Ohnesorg, dass der Faschismus zurückkehre. Hatten Sie die Angst auch?
Nein. Was mich nach meiner fürchterlichen Internatszeit fasziniert hat, war das Antiautoritäre. Für die radikalen Gerechtigkeitsanwandlungen war ich als guter Christ anfällig. Das ist ja auch nicht schlecht, wenn man nicht in einer Sekte versinkt.
Wie Sie später im Kommunistischen Bund Westdeutschland.
Was mich angezogen hat, war das Libertäre. Wenn ich heute sage, es war ein großer Irrtum, so bezieht sich das auf mein Versinken in linksradikalen Sekten. Aber zu 1968 als kulturrevolutionärer Bewegung stehe ich absolut und finde sie positiv und notwendig. Mit all den Auswüchsen, die so was immer mit sich bringt, wie das Abgleiten in die RAF, hatte ich nichts zu tun.
Sie sind stattdessen zur Bundeswehr abgeglitten.
Das kann man so nicht sagen. Das war einfach normal.
Kriegsdienst war normal in Ihrem Umfeld?
Na ja, nicht ganz. Es gab schon einige, vor allem die Kinder vom damaligen evangelischen Pfarrer, die pazifistisch waren und verweigert haben, aber das war in einem Städtchen wie Sigmaringen die Ausnahme. Allerdings hat die Erfahrung bei der autoritären Bundeswehr dazu beigetragen, dass mir das linksradikale Antiautoritäre gut gefallen hat.
Haben Ihre Erfahrungen beim Kommunistischen Bund Westdeutschland dazu geführt, dass Sie die ökologische der sozialen Frage vorziehen?
Nein, das ist nicht der Grund.
Sondern?
Die Liebe zur Natur. Ich habe ja nicht zufällig Biologie studiert und nicht Germanistik.
Kennen Sie den Vorwurf: Ein Freund der Umwelt kann kein Freund der Menschen sein?
Abstrus. Diese Aussage ergibt keinen Sinn. Das ist so sinnvoll wie Selbstmord. Es gibt einen Satz von Herder: Der Mensch ist das Auge, mit dem die Natur sich betrachtet. Was ist die Natur ohne den Menschen? Viele glauben ja, ich sei aus religiösen Gründen zu den Grünen gegangen. Überhaupt nicht, eher umgekehrt.
Umgekehrt?
Ich wurde wieder religiös, als ich in der Ökologiebewegung war. Mir wurde klar, dass ich die Welt nicht retten kann. Die Welt hat Gott erschaffen, das heißt: Die Welt ist da, sie ist gut, ich kann etwas für sie tun. Aber retten kann ich sie nicht. Da hilft mir mein Glaube, dass ich das nicht auf meine Schultern nehmen muss. Ich engagiere mich im Vertrauen darauf, dass uns versprochen ist, dass die Welt nicht untergeht. Nicht vor dem Ende der Zeiten.
Wovor haben Sie Angst?
Ich habe keine Angst. Es tauchen immer mal wieder Ängste vor einem schlechten Tod oder schweren Krankheiten auf. Aber ich bin kein Mensch, der von Ängsten geplagt ist.
Gewissensbisse wegen der Leute, die Sie auf dem Weg nach oben zur Seite geräumt haben?
Überhaupt nicht. Es gab normale politische Auseinandersetzungen. Aber dass Ebermann und Trampert …
… zwei Ökosozialisten, die 1990 die Grünen verließen …
… dass die jetzt Pferde züchten oder was immer die machen: Da muss man kein schlechtes Gewissen haben.
Wann ist Ihnen Geld wichtig?
Wenn ich mein Konto überzogen habe …
… was sicher nicht vorkommt.
Doch. Das ist ein Irrtum.
In was für einem Moment sind auch Sie mal glücklich?
Neun Sekunden Schweigen. Vögel zwitschern.
Hm.
■ Nadine Michel, 29, taz-Korrespondentin in Baden-Württemberg. Als Nordlicht vom guten Leben in Stuttgart positiv überrascht
■ Peter Unfried, 48, taz-Chefreporter. Hält inzwischen auch ein gutes Leben in Stuttgart für möglich