: Hirnströme steuern Flipperautomaten
MENSCH-MASCHINE Eine Forschergruppe an der TU Berlin entwickelt eine superschnelle Schnittstelle zwischen Gehirn und einer Maschine
VON BARBARA KERNECK
„Was nützt die Liebe in Gedanken“ hieß vor einigen Jahren ein international erfolgreiches deutsches Filmdrama. Bei der Liebe kann man darüber streiten, aber das Flippern in Gedanken bringt mit Sicherheit Nutzen. Dies demonstrierte in diesem Sommer ein Experiment des Forscherteams um Professor Klaus-Robert Müller vom Fachgebiet Maschinelles Lernen der Technischen Universität Berlin.
Die Probandin sitzt dabei mit einer durchlöcherten Plastikkopfbedeckung nach Art einer Strähnchenhaube vor einem Flipperautomaten und kickt die Kugel flott umher, ganz ohne ihre Hände zu benutzen, allein durch die Kraft ihrer Gedanken. Aus der Haube ragen Elektroden, die ihre elektrische Hirnaktivität abnehmen. Diese Signale werden an das Brain Computer Interface System (BBCI) weitergeleitet, welches sie dann in Steuersignale für Computer oder andere Maschinen umwandelt.
Brain Computer Interface (BCI) nennt man Schnittstellen zwischen dem Gehirn und Rechnern, die einen direkten Dialog zwischen Mensch und Maschine ermöglichen. Mit diesen befassen sich heute in verschiedenen Ländern etwa 150 Arbeitsgruppen. Sie profitieren davon, dass die Hirnaktivität nicht nur ein bestimmtes Verhalten, sondern bereits die rein gedankliche Vorstellung davon widerspiegelt.
Beim Flippern darf man bekanntlich nicht lange fackeln. Dem Berliner Team, zu dem auch Neurologen von der Universitätsklinik Charité und Forscher vom Fraunhofer-Institut für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik gehören, gelang gerade in Bezug auf die Schnelligkeit ein Durchbruch. Dies eröffnet der Methode künftig ein breites Feld von Anwendungen. Denn was würde es zum Beispiel einem Behinderten nützen, wenn er seinen Rollstuhl zwar per Gedanken steuern, dabei aber nicht rechtzeitig einem spät erkannten Türrahmen ausweichen könnte? Reaktionsschnelligkeit erfordert auch das Steuern des Cursors auf einem PC, das man Querschnittsgelähmten oder Schlaganfallpatienten ermöglichen könnte.
Professor Klaus-Robert Müller war an der Geschwindigkeit auch deshalb interessiert, weil er selbst sein kritischster Proband ist. Er hatte keine Lust mehr, 300 Stunden lang zu trainieren, um – wie bisher notwendig – seine eigenen Hirnströme auf die Erkennungsmuster des Computers abzustimmen. Bei dem Flipper-Experiment muss sich der Proband nicht mehr der Maschine verständlich machen, sondern diese lernt, auf seine Impulse zu reagieren.
Gelegenheit dazu hat der Computer, während der Interface-Nutzer sich 100-mal vorstellt, die linke Hand zu bewegen und dann 100-mal die rechte. Innerhalb von zwei Minuten hat sich die Maschine die dafür typischen Signale eingeprägt.
Das Berliner Modell zeichnet sich auch dadurch aus, dass es am besten das sogenannte Cocktailpartyproblem bewältigt. Ein normal gut hörender Mensch ist in der Regel ohne weiteres in der Lage, sich mit seinem Gesprächspartner auf einer Party zu unterhalten, obgleich sein Gehirn daneben noch viele andere Sprecher und Geräusche in der Nähe registriert. Maschinen haben weit größere Schwierigkeiten, das Geplapper auseinanderzuhalten.
Von Haus aus nicht nur Informatiker, sondern auch Physiker, hat Professor Müller besonderen Spaß an interdisziplinärer Arbeit. „Mich interessiert, was die Welt im Innersten zusammenhält“, sagt er, „ich möchte aus datenanalytischer Sicht das Denken verstehen.“ Sein Interesse für die Arbeit mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) weckte ein japanischer Kollege.
Seit dem Jahr 2003 hat seine Arbeitsgruppe sieben Firmenausgründungen hervorgebracht. Müller selbst wurde Mitbegründer der Firma Idalab Datenanalysekonsulting. Sie macht die Kraft der Gedanken und statistische Verfahren für industrielle Forschungseinrichtungen nutzbar, für Finanzinstitute, den Wellness- und Gesundheitssektor.
Mit vereinfachten EEG-Sensoren und preisgünstigen Signalanalyse-Modulen könnten die Hirnstrommuster nämlich in Art eines Neurofeedback eingesetzt werden, um Konzentration und Aufmerksamkeit, aber auch Entspannung und Meditation zu fördern. Zudem kann das BCI als Messgerät dienen, zum Beispiel um die Wirksamkeit von Assistenzsystemen für ermüdende Autofahrer zu ermitteln.
Den Flipperautomaten als Versuchsgerät hatte es besonders attraktiv gemacht, dass er die laute, blinkende Welt ins Experiment einbrachte, die aus den Labors normalerweise ausgeschlossen wird. Einer von Müllers ehemaligen Doktoranden gründete, davon inspiriert, die Firma Picoimaging Technologies, welche unter anderem im Jahre 2010 Anwendungen für Nintendo-Spielekonsolen präsentieren will. Die EEG-Kappe soll dann durch eine Art Schweißband mit nur wenigen Hirnstromsensoren ersetzt werden, bei dem dann auch auf ein Leitgel verzichtet werden kann. Heute dauert das Anbringen der Haube mitsamt des Gels noch eine halbe Stunde.
In Hinsicht auf die weitere wissenschaftliche Arbeit an seinem Institut betont Klaus-Robert Müller: „Wir wollen ja nicht nur spielen, sondern vor allem Patienten helfen.“ Neben Querschnittsgelähmten und Schlaganfallpatienten kämen zum Beispiel an amyotropher Lateralsklerose Erkrankte in Betracht, deren Muskelkraft allmählich schwindet. Diese Menschen könnten lernen, das BCI zu nutzen, während sie noch über ihre motorischen Fähigkeiten verfügen. Sind diese dann verloren, bliebe ihnen dieses Kommunikationsmittel. „Aber bis es einmal so weit ist, werden mindestens fünf bis sieben Jahre vergehen“, sagt der Wissenschaftler.
Zurzeit bemüht er sich in einem neuen Projekt, die genauen Wünsche Behinderter zu erforschen, denen mit Hilfe des BCI schließlich entsprochen werden könnte. „Es gibt da noch viel zu forschen“,versichert der Professor erfreut, als riebe er sich die zum Flippern nicht mehr benötigten Hände.