: Die Therapie fährt Dreirad
In Hernes St-Marien-Hospital können psychisch erkrankte Frauen ihre Kinder mitbringen. Das ist nicht nur gut für Mutter und Kind. Es hilft auch den anderen Patienten in der psychiatrischen Klinik
AUS HERNE LUTZ DEBUS
Ein alter Backsteinbau. Im langen Flur lehnt ein Mann an der Wand. Teilnahmslos schaut er aus dem Fenster. Draußen ist Schmuddelwetter. Eine ältere Dame im Rollstuhl stochert in ihrem Möhreneintopf. Wie getrieben läuft eine junge Frau hin und her. Alltag in einer psychiatrischen Klinik. Plötzlich kurvt eine quietschfidele Dreijährige mit ihrem Dreirad zwischen den Erwachsenen umher.
Das St. Marien-Hospital Eickel in Herne ermöglicht seinen Patientinnen seit fünf Jahren ein etwas anderes Rooming-In. Psychisch erkrankten Frauen, die stationärer Hilfe bedürfen, können hier im nördlichen Ruhrgebiet ihre Kinder mitbringen. Das ist nicht selbstverständlich – in den meisten psychiatrischen Kliniken werden Mütter während der Behandlung von ihren Kindern getrennt.
Begonnen hatte alles mit zwei jungen Frauen. Die Behandlung erbrachte keine Besserung. Beide drängten auf Entlassung, sie litten darunter, ihre Kinder nicht versorgen zu können. Zur depressiven Symptomatik kamen die Schuldzuweisungen der Eltern und Schwiegereltern. Kurz entschlossen nahm man die Kinder mit auf. Bald schon besserte sich der Zustand der Frauen. Das Beispiel machte Schule: Mehr als 70 Patientinnen sind seither mit ihren Kindern in Eickel behandelt worden.
Die Kleinsten liegen in ihren Wiegen, werden von Müttern oder Krankenschwestern versorgt. Sogar Oberarzt Boonsorn Bond macht Hoppe-Hoppe-Reiter mit dem Nachwuchs. Die Älteren kommen im benachbarten Kindergarten unter. Da der Stadtteil Eickel recht überschaubar ist, ist auch der Schulweg für die größeren Kinder zu schaffen. Vormittags hat die Mutter Zeit für das Therapieprogramm in der Klinik. Am Nachmittag werden ihr nur so viele Aufgaben abgenommen wie nötig. Die Balance zwischen Be- und Entlastung wird zwischen Patientin und Mitarbeitern immer wieder ausgehandelt.
Psychische Erkrankungen von Müttern kurz nach der Entbindung werden noch immer tabuisiert. Zu sehr dominiert die lächelnde Mama aus den Hochglanzmagazinen. Dabei, so die Psychotherapeutin Kerstin Wunderlich, sei die Wahrscheinlichkeit, nach der Geburt des Kindes psychisch zu erkranken, etwa dreißig mal höher als in anderen Lebenssituationen. Viele Kinder seien nicht unbedingt gewollt. Zukunftspläne werden in Frage gestellt. Wenn dann der Alltag von allein erziehenden Müttern nur noch aus Wickeln, Füttern, Trösten, Waschen, Putzen und Schlaflosigkeit besteht, sind die Frauen schnell überfordert, viele brechen zusammen.
Sind es nur depressive Mütter, die ihr Kind mit in das Krankenhaus bringen können? Der Leiter der Klinik, Matthias Krisor, widerspricht: „Wir unterteilen nicht in Diagnosen.“ Tatsächlich gibt es im Herner St. Marien-Hospital keine speziellen Stationen für depressive, für an Zwängen erkrankten, für schizophrene oder suchtkranke Menschen. Es gibt keine speziellen Aufnahme- oder Langzeitstationen. Und es gibt, auch dies ist sehr selten im deutschen Psychiatriealltag, keine geschlossenen Stationen. Menschen, die gegen ihren eigenen Willen im Krankenhaus sind, weil sie eine akute Gefährdung für sich oder andere darstellen, werden notfalls rund um die Uhr von einem Mitarbeiter begleitet.
Die Belegung der Stationen mit schwer und weniger schwer erkrankten Menschen, die Orientierung an den Bedürfnissen der Patienten und eine gegenseitige Wertschätzung bewirken, so Krisor, eine gewaltfreie Atmosphäre. Das St. Marien-Hospital entspreche eben nicht der gängigen Praxis psychiatrischer Einrichtungen. Tatsächlich könne man sich Kleinkinder auf einer Station, in der körperliche Auseinandersetzungen, Zwangsmedikationen und Fixierungen an der Tagesordnung sind, nur äußerst schwer vorstellen.
Manchmal ist aber auch in Herne-Eickel die Aufnahme der Mutter mit ihrem Kind nicht möglich. Wenn der Zustand einer Frau sehr fragil ist, kann die bloße Anwesenheit des Kindes eine Überlastung darstellen. Und natürlich muss eine Gefährdung des Kindes ausgeschlossen sein. Manchmal ist es sinnvoll, dass in den ersten Wochen der Behandlung das Kind bei Verwandten bleibt und erst später in die Klinik kommt.
Aber es geht auch anders: Eine Frau, die per Zwangseinweisung aufgenommen werden sollte, wollte unbedingt wieder nach Hause. Matthias Krisor beruhigte die Patientin, verwickelte sie in eine Uterhaltung und fragte sie nach ihrem letzten Urlaubsziel. Er hatte Glück, zufällig kannte er den kleinen Ort an der Südküste Kretas, erinnerte an die „tolle Fischsuppe bei Janis“ – die Frau blieb.
Eine Zwangseinweisung ist ein dramatisches Geschehen: Eine Person glaubt sich im Recht. Viele andere glauben sich in einem ganz anderen Recht. Muss der eine dringend in eine Klinik gebracht werden oder spinnen alle anderen? Schnell eskaliert die Gewalt.
Aber was geschieht in solchen Situationen, wenn eine Mutter nicht nur eine Behandlung verweigert, sondern sich auch nicht von ihrem Kind trennen will? Manche Frauen entwickeln nach der Geburt ihres Babys die Wahnidee, dass man ihnen das Kind nehmen wolle – und der Wahn wird oft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Das Angebot des St. Marien-Hospitals kann die betroffenen Frauen etwas beruhigen.
Die Klinik habe durch die Mütter und Kinder auch manchen neuen Blickwinkel kennen gelernt, sagt Klinikleiter Matthias Krisor, betritt die Station Vier und begrüßt einen unruhigen, zumeist sehr lauten Patienten. Doch heute flüstert er: „Herr Doktor, nicht so laut, Johannes schläft.“ Bisweilen macht ein Baby aus einem Maniker einen liebevollen Säuglingspfleger. Die demente Dame im Rollstuhl vergisst immer wieder, dass ihre Nachbarin sie gerade schon besucht hatte. Aber wenn die kleine Luca auf ihren Knien sitzt, fallen ihr die Kinderlieder von früher ein. Drittes Beispiel: Stillende Mütter verweigern aus gutem Grund Medikamente. Sie sind ja nicht für das Kind bestimmt – und dann ist die gesamte psychotherapeutische Kompetenz der Klinik gefragt: Aus den Erfahrungen mit stillenden Müttern lernten die Ärzte in Herne-Eickel, dass viele Erkrankungen auch ganz ohne Medikamente behandelt werden können. Allerdings sei dies oft belastender – für alle Beteiligten.
Voller Interesse verfolgen die Mitarbeiter im St. Marien-Hospital die neusten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung. Psychoanalytiker wie Daniel N. Stern erforschen seit Jahren das Verhältnis zwischen Säuglingen und ihren Müttern. Ergebnis ihres „Babywatchings“: Auch Neugeborene verfügen über vielfältige Variationen des Ausdrucks, reagieren differenziert auf ihre Umwelt. Stern beschrieb die vielgestaltige Kommunikation zwischen Mutter und Kind. Ein Lächeln, ein Zwinkern, ein Greifen, ein Schnaufen, jede Regung der Beteiligten wurde mit Videokameras dokumentiert und ausgewertet. Das Ergebnis von Sterns Studie: Je mehr sich das Kind verstanden fühlt, um so vitaler entwickelt es sich. Psychotherapeutische Schulen sprechen nun von „frühen Störungen“: Die Wahrscheinlichkeit, an Schizophrenie zu erkranken, sei größer, wenn in den ersten Lebensmonaten bereits die Erfahrung gemacht wurde, nicht verstanden zu werden.
Stationspfleger André Brüche sieht zu, wie eine Frau ihr Kind füttert. Sie schaut mit leerem Blick an die Wand. Das Kind auch. Die Mutter führt den Löffel mit Brei dorthin, wo sie den Mund des Kindes vermutet. Das Kind schließt mechanisch den Mund, schluckt, öffnet ihn wieder. Dann übernimmt Brüche den Job, füttert das Kind und ruft: „Jetzt kommt der Bagger!“ Und brummt dazu wie ein Motor. Das Kind lacht und isst, auch die Mutter ist begeistert: „Das muss einem doch auch mal gesagt werden.“