Lost in Links

ANZUGTRÄGER Virtuell aufgeweichte Wirklichkeit: „Der letzte Mann auf dem Kontinent“ von Terézia Mora

Perspektiven werden auf- und wieder eingeklappt, eben Erzähltes wird flugs wieder zurückgenommen

VON WIEBKE POROMBKA

Wollte man eine Typologie der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre entwerfen, gehörte er zweifelsohne zu den symptomatischen Gestalten: der Anzugmensch mit Aluköfferchen, der seinen Laptop zwischen Dachterrasse, Büro und Sushibar hin und her trägt, auf möglichst vielen Leitungen und Netzen gleichzeitig kommuniziert und im Flugzeug oder an der Cocktailbar immer mal wieder durch einigermaßen rüpelhaftes Gebaren auffällt. Kind der New-Economy-Blase, der irgendwie in Finanzen oder Computern macht, selbst dann noch, wenn diese Blase längst zerplatzt ist.

Was genau er da macht, ist für Außenstehende kaum zu durchschauen. Und womöglich geht es ihm selbst nicht viel anders.

Um diese Erkenntnis kommt nicht herum, wer acht Tage lang das Leben von Darius Kopp begleitet, den Terézia Mora, die durch den Erzählungsband „Seltsame Materie“ und ihr Romandebüt „Alle Tage“ eine der bemerkenswertesten Erzählerinnen der Gegenwart geworden ist, zum – nun ja – Helden ihres neuen Romans „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ gemacht hat. Kopp, ein auf dem Kopf langsam schütter werdender, an Bauchumfang dafür kontinuierlich zulegender Mittvierziger, vertreibt offiziell Komponenten für drahtlose Kommunikation.

Inoffiziell bestehen seine Tage vor allem darin, Spammails zu löschen, in Wirtschaftsforen zu surfen oder sich einen extrasüßen Cappuccino aus der Küche des Bürogebäudes zu holen, in dem er ein 12 Quadratmeter großes Räumchen gemietet hat, das vor Kartonstapeln kaum noch zu betreten ist. Hin und wieder telefoniert er mit seinen Chefs, die sich irgendwo jenseits des Atlantiks aufhalten. Oder er versucht, neue Projekte an Land zu ziehen, geht dann meistens aber doch lieber mit Kollegen oder Freunden essen und gemeinsam „wiehern“ sie dann über alte und neueste Schoten.

Zerfasern der Tage

Allemal verwunderlich, wie dieser Mann es zu seiner Frau gebracht hat. Ihr Name sagt es schon: Die naturverbundene, feingliedrige Flora, die durch kleinste Erschütterungen aus der Bahn geworfen wird, ist das komplette Gegenteil vom schwergewichtigen Kopp, an dessen Mischung aus tapsiger Liebenswürdigkeit und Überheblichkeit alles abzuprallen scheint. „Ich bin eine Kathedrale“, verkündet er der schlaftrunkenen Flora, als er nachts nach Hause kommt; gerade wurde ihm mitgeteilt, dass, mit Ausnahme von ihm, allen Mitarbeitern in den europäischen Dependancen seiner Firma gekündigt worden ist und er nun eben jener einzige Mann auf dem Kontinent sei.

An dem Zerfasern seiner Tage, an seinem immerwährenden „lost in links“ ändert das allerdings wenig. Liest man Kopp als eine symptomatische Figur für das frühe 21. Jahrhundert und Moras Roman als eine mentale Kartografie unserer Zeit, dann sind die Linien unübersehbar, die sich zu Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ziehen lassen, der in der Postulierung unendlich vieler möglicher Wirklichkeiten und der gleichzeitigen umfassenden Handlungsunfähigkeit seiner Figuren wie kaum ein anderer Roman über die kulturellen Zäsuren und philosophischen Leerstellen nach der vorletzten Jahrhundertwende reflektiert.

„Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht“, heißt gleich das erste Kapitel im „Mann ohne Eigenschaften“. Frappant, wie sich diese Zeitdiagnose mit der heutigen, virtuell aufgeweichten Wirklichkeit trifft, in der User sich fortwährend durch Nachrichten und Möglichkeitsräume klicken, ohne dass Wesentliches daraus erwachsen würde. Kopps notorische Ess- und Trinkgelüste erscheinen wie der logische Reflex nach etwas Fleischlichkeit im Aufgehobensein in derart sinnlichkeitsarmen Datennetzen.

Linien zu Musil

Mora macht dieses Spiel mit Möglichkeiten auch zum stilistischen Prinzip ihres Erzählens. Perspektiven werden auf- und genauso schnell wieder eingeklappt, eben Erzähltes wird flugs wieder zurückgenommen, manchmal schaltet sich gar ein Erzähler ein, der Kopps Geschicke mehr süffisant kommentiert als leitet. Wie Sprache Wirklichkeit allererst erzeugt, wird auf diese Weise von Mora ebenso mit virtuoser Poesie und Witz vorgeführt wie in seiner Fadenscheinigkeit transparent.

Während bei Musil alle Möglichkeiten und essayistischen Erzählstränge, alle zu nichts führende Geschäftigkeit mit fataler Zwangsläufigkeit auf den Ersten Weltkrieg zusteuert, stehen hundert Jahre später, am vorläufigem Ende von Moras Roman, vergleichsweise kleine Katastrophen: Beziehungskrise und Arbeitslosigkeit. Darum, dass Kopp früher oder später in einem neuen Netzwerk aufgefangen wird, muss man sich kaum sorgen.

Indes verbleibt nach der Lektüre von Moras Roman ein anderes Unbehagen. Vielleicht ist es die große und ungewisse Frage danach, wohin wir mit unserer Nachwende- und Nach-New-Economy-Gesellschaft denn steuern werden. Vielleicht ist es aber auch nur der kleine und etwas unwillige Reflex, mit einem jener Anzugträger, deren Aluköfferchen entschieden mehr glänzen als sie selbst, auf fast 400 Seiten derart auf Tuchfühlung gehen zu müssen, so symptomatisch sie für unsere Zeit auch sein mögen.

■ Terézia Mora: „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, Luchterhand Literaturverlag, München 2009, 384 Seiten, 21,95 Euro