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Archiv-Artikel

Die Akte Vince Aletti

MUSIKKRITIK DJs bezeichnete der US-Musikjournalist Vince Aletti als „Launenzauberer“, die Stimmungen wie Billardkugeln lenken können. Seine „Disco Files“ beleuchten die Evolution des New Yorker Dancefloors

Drei Disco-Essenzen

■ „Horse Meat Disco“ DJs haben nachgefragte Songs aus ihrer Clubnacht kompiliert. B-Seiten von Karen Young und alternative Mixe von Larry Levan inklusive.

V.A. „Horse Meat Disco“ (Strut)

■ Patrick Cowley, 1982 an Aids verstorbener Produzent, hat ein Disco-Punk-Konzeptalbum namens „Catholic“ hinterlassen. Die Musik bringt Science-Fiction mit Disco-Exzessen in Einklang. Patrick Cowley & Jorge Socarras „Catholic“

■ Auf Wunsch des französischen DJs Dimitri Yerasimos mischen die Londoner Idjut Boys ihre Discofaves. Dimitri spendiert Boogie-Disco-Perlen in voller Länge. Dimitri from Paris presents „Nightdubbin’“ (BBE) JW

VON JULIAN WEBER

Paar-ty! Paar-ty! Man hört diesen Chant in letzter Zeit öfter. Er schwillt an wie eine tribalistische Parole, die ihrerseits auf einer Klangwelle aus schrillen Trillerpfeifentönen und blechernen Tamburinschlägen bricht. Es ist das definitive Signal zum Aufbruch: Ab jetzt heißt es tanzen und ernsthaft feiern. Gleichzeitig ist es auch ein Statement: Leute, was auch geschieht, die Party geht weiter! Außerdem besagt der Chant, dass Clubs, in denen das gepflegte Feiern seinen Anfang nahm, wieder zum Maß aller Dinge geworden sind, nachdem sie schon ausgeknipst schienen, vom Blitzlichtpop der Swinging Sixties.“

Als diese Zeilen am 13. September 1973 im Rolling Stone erschienen, war ihr Verfasser, der Musikkritiker Vince Aletti, 28 Jahre alt. Ein junger Autor – seine Karriere hatte er in den Sechzigern bei Undergroundmusikmagazinen wie Crawdaddy oder Creem begonnen mit einem Expertenwissen für Soulmusik.

Aber die Siebziger waren nicht mehr von der unschuldigen Aufbruchstimmung des Souls geprägt. Die Tanzmusik wurde härter, verzweifelter, aber auch dekadenter und verspielter. Deswegen, so schreibt es Vince Aletti im Vorwort zu seinem Buch „The Disco Files“, suchte er in den frühen Siebzigern sein Heil in der hedonistischen Atmosphäre der New Yorker Loft-Disco-Szene.

Dort ging die Party Woche für Woche in eine neue Runde, brach der Nachschub an Hymnen wie „Girl, you need a change of mind“ von Eddie Kendricks nie ab. Die Discophilen waren in der Mehrzahl afroamerikanische, hispanische, italienischstämmige und schwule Männer, die sich in ausrangierten Hotelfestsälen, Tiefgaragen oder Privatgemächern eigene Refugien schufen. Willkommen waren dort alle, die nach der besten Tanzmusik suchten. „Wenn man mich fragt, was ich mache, antworte ich: Partys schmeißen“, ließ sich der DJ David Mancuso von Aletti zitieren. Mancusos Wohnung „The Loft“ wurde zur Wiege der New Yorker Untergrund-Disco-Szene.

„The Disco Files“ ist der passende Titel von Alettis Musikkolumne, die in dem Branchenblatt Record World zwischen 1973 und 1978 allwöchentlich erschien. Er war der erste US-Journalist, der Disco als Kunstform ernst nahm, über die Musik schrieb, über DJs und das Selbstverständnis der Szene, auch weil er selbst als Erleuchtung suchender Tänzer aktiv daran teilnahm. Alle seine Texte aus jenen Jahren sind nun zu einer Chronik zusammengefasst, mit Originalfotos versehen und um einige Aletti-Artikel aus der New Yorker Stadtzeitung Village Voice zum Buch ergänzt worden.

Alettis Beobachtungen legen das Fundament für das, was heute unter dem Begriff „Clubkultur“ läuft

Alettis Beobachtungen legen das Fundament für das, was heute auf der ganzen Welt unter dem Begriff Klubkultur rezipiert wird. Im New York der frühen Siebziger wurde Tanzmusik zum ersten Mal an den Plattenspielern zum endlosen Beat zusammenmontiert, die Songs traten miteinander in Kommunikation. Aletti listet Orte, Personen, Songs und Platten, auch solche, von denen inzwischen niemand mehr etwas weiß. Er beschreibt all die Ingredienzen in einem selbstlosen, auch höflichen Ton des Understatements. Gegen anfängliche Widerstände wurde Alettis Kolumne einflussreich. „Es ging dabei nie um mich, es ging immer um die Musik und die Leute, die sie aufgelegt haben.“

DJs bezeichnet Aletti als „Launenzauberer“, die die Stimmung der Leute, „wie Billardkugeln von einer Bande zur anderen stoßen können“. Aletti ist der klassische Multiplikator, der Tendenzen aufgreift, Wissen weitergibt, der am DJ-Pult hängt und sich nicht zu schade ist, die DJs zu fragen, welcher Song gerade gespielt wird. „Die besten DJs sind Stars im Underground. Sie graben sträflich übersehene Platten aus, seien es Importtitel, Albumcuts oder obskure Singles. Diese Musik aus dem Schatten versehen sie mit einer Power, die die Gesichter der Leute auf dem Dancefloor zum Leuchten bringt“ (1975).

Vince Aletti arbeitet inzwischen als Fotokritiker des Magazins New Yorker. Sein Wissen von Disco wird heute von discophilen Partyveranstaltern wie „Rvng Intl“ in New York oder „Horse Meat Disco“ in London einer neuen discophilen Generation weitervermittelt.

■ Vince Aletti: „The Disco Files 1973–78. New York’s underground week by week“. DJHistory.com, London 2009, 467 S., 19,95 £