Engagement ist alles

Eine persönliche Erinnerung an den Romanautor, Grünen-Gründer und Zeitkritiker Carl Amery

VON DIRK KNIPPHALS

Manche Nachrufe laufen eine eigentümliche Gefahr. Sie flutschen einfach zu schnell. Ein Nachruf auf Carl Amery, der am 24. Mai im Alter von 83 Jahren in München gestorben ist, scheint mir von vornherein in so einer Gefahr zu stehen.

Es ist so, dass das Material dieses Lebens auf den ersten Blick gleichsam zu abgepackt, auf jeden Fall zu eindeutig erscheint. 1922 unter dem Namen Christian Anton Mayer als Sohn eines Hochschulprofessors in München geboren. Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, Literaturstudium. Dann aber! Literarisch-essayistischer Kampf gegen die Wohlstandsrepublik. Kampf gegen den konservativen Katholizismus. Kampf gegen die Atomrüstung. Kampf für Willy Brandt. Kampf gegen Helmut Schmidt. Kampf für die Grünen. Kampf gegen die Umweltzerstörung. Engagement im PEN. Zuletzt noch zusammen mit Hermann Scheer Kampf gegen die Feinde der Solarenergie.

So schnurrt dieses Leben auf ein einziges Dagegen- und Dafürsein zusammen. Die Anlässe wechseln, das Kämpfen bleibt. Die Mittel des Kämpfens auch: Satire, offene Briefe, Essayistik. Selbst wenn man hinzunimmt, dass es hier auch interessante Widersprüche gibt – so bleibt der Katholizismuskritiker Katholik, hatte der Konservatismuskritiker seine wertkonservativen Seiten –, will diese Biografie doch, wenn man nicht aufpasst, geradezu auf das Klischeebild eines engagierten oppositionellen Intellektuellen hinauslaufen. Der ewige Ankläger, ständig mit dem Wort „Protest!“ auf den Lippen.

So geradlinig verlaufen aber Leben nicht, auch die eines „konservativen Rebellen“ (so Walter Jens über Amery) nicht; und überhaupt ist die Figur eines zornigen Mannes des Wortes, die nicht nur von Carl Amery in der alten Bundesrepublik gehegt und gepflegt wurde, eine gesellschaftliche Rollenzuschreibung, die individuelle Züge planieren kann. Carl Amery hat sie ohne viel Federlesens für sich übernommen. Gerne hätte ich zum Beispiel aber gewusst, ob er nicht auch seine traurigen Momente darüber hatte, dass er vor allem durch sein Engagement, nicht so sehr aufgrund seiner literarischen Arbeiten im Gedächtnis bleiben wird. Heinrich Böll, mit dem er manchmal verglichen wurde, soll darunter gelegentlich furchtbar gelitten haben.

Als Carl Amery vor knapp zwei Jahren das letzte Mal bei der taz anrief, um einen Text anzubieten (eine Satire über Bush und Pinochet, der Text wurde natürlich gedruckt), habe ich ihn vorsichtig in diese Richtung gefragt. Er stieg aber so gar nicht auf ein solches Gespräch ein. Wahrscheinlich wäre es ihm schlicht zu intim gewesen. Aber auch in seinem Werk dominierte unumstritten der Zug, lieber auf die ewigen Probleme der Welt als auf sich selbst zu gucken.

Es herrscht hier eine Ästhetik des Großen und Ganzen, des Gleichnishaften vor – in seinem Roman „Die Wallfahrer“ kann er etwa umstandslos von der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zu einer Bauernbewegung im 19. Jahrhundert und von dort noch ins 20. Jahrhundert springen. Das gelingt einem nur, wenn man meint, durch die jeweiligen gesellschaftlichen Oberflächen hindurchsehen zu können, wobei Differenzierungen, auch Differenzierungen der eigenen Autorenposition, im Grunde nur hinderlich sein können. Neben diesem historisierenden Zug gibt es in seinem Werk übrigens noch einen Strang der apokalyptischen Science-Fiction; im Internet findet man – ein hübscher Punkt, der sich den engagierten Rollenmustern allerdings nicht fügen mag – Hinweise auf seine literarischen Bücher zuallererst auf Sci-Fi-Fanseiten.

Gerne hätte ich Carl Amery bei dem Telefongespräch noch etwas gefragt: Ob er nicht meinen würde, dass das Dagegensein mittlerweile schlicht zu leicht geworden ist, um darauf sein intellektuelles Selbstverständnis zu gründen. Als „Nestbeschmutzer“ und „Unruhestifter“, wie das in seinem Werdegang viele, viele Jahre lang üblich war, wird heute niemand mehr beschimpft, der als Zeitkritiker auftritt; Protestkarrieren allein reichen in unübersichtlicheren Zeiten nicht mehr aus. Vielleicht war es Hochmut, dass ich ihn nicht gefragt habe. Ich habe jedenfalls nicht geglaubt, dass er über die Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Intellektualität nachgedacht hat. Zu sehr stand er bis zum Schluss mitten im Kämpfen.