WARTEN IN GESELLSCHAFT
: Kurze Lebenszeit

Warten lehne ich abgrundtief ab, wer’s tut, ist selber schuld

„Da wartet man etliche Stunden!“, prognostiziert er und bezieht sich auf die Warteschlange vor der Neuen Nationalgalerie. Ich vergeude ja mit viel Sinnlosem meine angeblich so spärlich bemessene Lebenszeit. Warten allerdings gehört zu den Dingen, die ich abgrundtief ablehne. Wer wartet, ist selber schuld, und so spiele ich die verschiedenen Szenarien in meinem Kopf bereits von vornherein durch.

Der Trick meiner Mutter ist, sich ein Kissen unter den Pullover zu stopfen und laut keuchend an der jeweiligen Warteschlange zu erscheinen. Fällt in meinem Fall flach. Eine ihrer Varianten war der suchende Blick in Verbindung mit dem Ausrufen eines beliebigen Namens. Kurz vor dem Eingang ertönte dann ein freudiges „Aaah, da bist du ja!“. Aber ich bin da anders gepolt. Zwar bin ich stets bereit zu den unangebrachtesten Aktionen, zu unflätigsten Beschimpfungen und illegalsten Handlungen, hier jedoch kommt der Spießer in mir durch, wir stellen uns an. Gerhard Richter also. Moderne Kunst. Nach dem Besuch der Boros-Kollektion im Bunker ist es bereits die zweite Sammlung moderner Kunst, die ich in diesem Monat sehe. Wobei – es ist eventuell auch erst die zweite in meinem Leben.

Im Inneren der Nationalgalerie angekommen, empfangen uns bemalte Leinwände. So weit nichts Neues, mir jedoch fehlen die erwartete Riefenstahl-Ästhetik und die überdimensionalen deutschen Menschen. „Das ist Neo Rauch, den du meinst“, klärt mich meine Begleitung auf, sie hat Kunstgeschichte studiert, sie muss es wissen. Mein stundenlanges Warten prognostizierender Freund und ich beschäftigen uns fortan lieber mit den weiblichen Vorzügen der Besucherinnen, schließlich sind hier Mädchen unterwegs, die man morgens um acht im Golden Gate doch eher selten antreffen würde. Aber da hätte sich dann wenigstens das Warten gelohnt.

JURI STERNBURG