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Archiv-Artikel

Aus Trotz vor dem Superstaat Brüssel

Viele Niederländer haben aus Sorge um ihre nationale Identität gegen die Europäische Verfassung gestimmt

AMSTERDAM taz ■ Oosterpark in Amsterdam. Um die Ecke ist Theo van Gogh ermordet worden. Jetzt ist EU-Referendum. „Eigentlich gibt es da keinen Zusammenhang“, sagt Pieter und blickt über die sonnige Wiese. „Aber vielleicht doch.“ Seit diesem Mord im vergangenen November hätten alle Niederländer das Gefühl, dass etwas geschehen muss. „Irgendwas.“

Also hat der 33-Jährige mit Nein gestimmt, „gegen die Regierung“. Die EU war zweitrangig, das gibt Pieter zu. Über die Verfassung hat der Krankenpfleger nur gehört, dass die Niederlande „ihre Vetorechte verlieren“. Aber das allein hätte ihn nicht motiviert, am Referendum teilzunehmen. „Es war die Aufregung in den letzten Tagen“, weswegen er dabei sein wollte.

Nur nichts verpassen. So haben offensichtlich viele Niederländer empfunden – und die Wahlforscher überrumpelt. Die Experten hatten mit einer Wahlbeteiligung zwischen 35 und 45 Prozent gerechnet, tatsächlich lag sie am Mittwoch bei 63 Prozent. Zur letzten Europawahl waren nur knapp 40 Prozent der Niederländer erschienen. Auch gab es deutlich mehr Neinstimmen als erwartet. Mit fast 62 Prozent übertrumpfen die Niederländer sogar noch die französischen 55 Prozent. Das sehen die Niederländer durchaus sportlich und fühlen sich nun als Sieger im Anti-EU-Wettstreit.

Auch Juliane hat mit Nein gestimmt. „Was hatten wir für ein herrliches Geld. Die Kwartjes, die Dubbeltjes, alles vernichtet. Dann kam der hässliche Euro.“ Die 82-jährige Dame wusste lange nicht, was sie ankreuzen wollte. Ihr Sohn hat gesagt, dass sie mit Ja stimmen soll. Doch das verstand sie nicht, „im Fernsehen hörte ich immer nur Nein“. Eigentlich eine erstaunliche Aussage, denn die Regierung gab in den letzten Wochen 3,5 Millionen Euro für EU-Werbung aus, während die Gegner kaum über Mittel verfügten. Doch das Kabinett geriet in eine Kommunikationsfalle, wie die niederländische Tageszeitung NRC Handelsblad analysierte: „Aus einer Ja-Kampagne wurde eine doppelte Nein-Kampagne.“ Sie wurde zum Abwehrkampf „gegen das Gegen“. Statt für die EU-Verfassung zu werben, hätte die Regierung das Negative eines Neins beschworen. Der Justizminister sah Kriege voraus, der Außenminister fürchtete einen ökonomischen Einbruch und Ministerpräsident Balkenende erinnerte an Auschwitz.

Diese Dramatisierung kam nicht an: „Wenn ich die Befürworter sehe, dann wird mir übel“, sagt die 50-jährige Yara im Oosterpark. „Die Regierung will uns nur manipulieren.“ Dabei weiß sie doch ganz genau, dass „Europa schlecht für die Tiere ist“. Yara streichelt ihren großen schwarzen Hund. Die Verfassung kennt sie nicht, aber in den Broschüren der Tierpartei hat sie gelesen, „dass die Hühnerkäfige noch kleiner werden sollen“.

Oosterpark ist ein Multikulti-Wahlbezirk . Viele Marokkaner wohnen hier, Antillaner und Surinamesen. Doch es scheinen vor allem Einheimische zu kommen, um in der Schulaula abzustimmen. Wie viele Migranten sich beteiligen? „Das erheben wir nicht“, sagt die Wahlleiterin abweisend. „Das sind alles Niederländer.“

Doch so fühlen sich viele Zuwanderer nicht – und gehören daher zu den wenigen Europa-Fans. Besonders gefällt ihnen ein Verfassungspassus, der das „Recht auf ein Familienleben“ garantiert. Das ist in den Niederlanden nicht mehr selbstverständlich: Die Regierung will möglichst verhindern, dass Marokkaner und Türken Frauen aus ihren Heimatländern heiraten und in die Niederlande holen. Die Minderheiten wünschen sich Europa, weil bei 25 Staaten jeder zur Minderheit wird.

Die Hoffnung der Migranten ist die Angst des Populisten. Der selbst ernannte Fortuyn-Erbe Geert Wilders zog mit der Losung durchs Land: „Die Niederlande müssen bleiben.“ Die Sozialisten wiederum entwarfen eine Europa-Karte, auf der die Niederlande ausradiert waren. Hilflos konterte der Ministerpräsident, dass „das Oranje-Gefühl nicht verloren geht“. Doch die Angst vor dem „Superstaat“ in Brüssel blieb – und sie hat das Referendum letztlich entschieden, wie die Wahlforscher ermittelten.

Auf einer Mauer ist ein Wahl-Graffiti zu sehen. „Warum Nein?“, fragt ein Sprayer in Schwarz. „Warum nicht?“, hat jemand in Blau geantwortet. Der niederländische Wähleraufstand ist spielerischer als bei den Franzosen. Denn jeder wusste, dass innenpolitisch nichts folgt. Zwar fordert Wilders schon seit Wochen, dass die Regierung bei einem Nein zurücktreten muss. Doch damit dürfte der Populist nicht durchdringen; mehr als einen Imageschaden muss das Kabinett nicht fürchten. „Es ist paradox“, findet auch Pieter im Oosterpark. „Ich will, dass die Regierung geht – aber doch nicht wegen der EU!“

Dieser Anlass erscheint vielen Kritikern zu läppisch, zumal auch sie sich noch gut erinnern, dass das Kabinett eigentlich nichts mit dem Referendum zu tun hatte. Es war das Parlament, das die Abstimmung wünschte. 128 von 150 Abgeordneten votierten damals für den Antrag. Vor allem Grüne, Sozialdemokraten und Liberale wollten bei den Wählern punkten, indem sie mehr Basisdemokratie versprachen. Diese Euphorie ist verflogen, nun windet man sich diplomatisch in fast wortgleichen Formulierungen. Die hohe Wahlbeteiligung „war ein Fest der Demokratie“ (Liberale), „ein Sieg für die Demokratie“ (Sozialdemokraten). Und alle zusammen: „Schön, dass so intensiv über Europa debattiert wird.“

ULRIKE HERRMANN