Hirn auf Sand

Im French-Open-Finale duellieren sich in Justine Henin-Hardenne und Mary Pierce zwei gereifte Spielerinnen

PARIS taz ■ Natürlich sei sie auch beim vierten Mal so nervös wie bei der Premiere, versichert Justine Henin-Hardenne (23). Aber sie habe die Tage des Wartens auf ein Endspiel immer gemocht; „D-Day“ sagt sie dazu. „Die Spannung tut mir gut. Sie gibt mir die Energie, um gewinnen zu können.“ Es gibt Beweise für ihre Theorie: Siege und Titel bei jeder der drei Gelegenheiten (Paris und New York 2003, Melbourne 2004), dazu im Endspiel der Olympischen Spiele in Athen.

Mary Pierce (30) hat mehr Zeit gebraucht, um Spannung und Aufregung in die richtigen Bahnen zu lenken. In der Nacht vor ihrem ersten Endspiel in Paris – das ist elf Jahre her – habe sie kaum ein Auge zugemacht, berichtet sie. Sie verlor dieses Endspiel, ein weiteres drei Jahre später in Australien, aber an den Orten dieser Niederlagen gewann sie auch zweimal. Im Spätsommer ihrer Karriere hofft sie auf einen weiteren Titel – umhüllt vom goldenen Vlies ihrer Freude aufs Endspiel am Samstag.

Mal abgesehen vom nationalen Aspekt dürften die Zuschauer für diese Konstellation dankbar sein. Denn der Bedarf an Frust und Langeweile wurde in den Halbfinals gedeckt, maßgeblich beeinflusst von der zittrigen Jelena Lichowzewa gegen Pierce und der nicht viel besseren Nadja Petrowa gegen Henin-Hardenne. Spiele, die den Schweden Mats Wilander in seiner täglichen Kolumne in der Sportzeitung L’Equipe zu einer harschen Kritik am Frauentennis trieben.

Die meisten Frauen im Profitennis, schreibt er, seien zwar gut trainiert und könnten verdammt hart schlagen, aber wenn das Powersystem mal nicht funktioniere, sei alles zu spät. „Plan B oder C existiert in ihren Köpfen nicht“, sagt Wilander. „Aber gerade wenn etwas nicht klappt, wäre das doch der richtige Moment, um zu zeigen, dass man ein Hirn hat.“

Über die Halbfinals lästerte er, er habe im Tennis noch nichts Schlimmeres gesehen – was nicht stimmt; vermutlich war Wilander während des Endspiels 2004 anderweitig beschäftigt. Denn wie eine Begegnung zweier hypernervöser Debütantinnen aussieht, das sah man seinerzeit in der fürchterlichen Partie zwischen Anastasia Myskina und Jelena Dementjewa, den russischen Freundinnen.

So etwas steht diesmal nicht zu befürchten. „Aber ich kann ja auch mal einen schlechten Tag haben“, sagt Justine Henin-Hardenne. Wobei sie mit der Art ihres Spiels außerhalb jeder Kritik steht. Mit den fantastischen Varianten ihrer Schläge, präsentiert mit Mut und Hirn, ist sie das weibliche Pendant zu Roger Federer. Sie ist die Favoriten für dieses Finale, aber die frische Form von Mary Pierce macht Hoffnung auf einen schönen Nachmittag in Paris.

Seit dem letzten Endspiel mit Klasse und Spannung sind vier Jahre vergangen (Capriati gegen Clijsters). Nervös sind alle gewesen; das muss ja so sein. Martina Navratilova, die diesmal das Finale im Mixed erreicht hat und den 59. Grand-Slam-Titel ihrer Karriere gewinnen kann, sagt, das Lampenfieber höre nie auf. Wer wüsste das besser als sie, nach tausenden von Spielen in mehr als dreißig Jahren?

DORIS HENKEL