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Archiv-Artikel

Globalisierung ist ein irres Spiel

Wer profitiert von der zunehmenden Liberalisierung des Welthandels? Wir alle. Aber gleichzeitig haben wir viel zu verlieren. Eine kleine Typologie

VON NICOLA LIEBERT

Ist die Globalisierung gut oder schlecht – und vor allem: für wen? Wer profitiert davon, wenn Jacken und Fernseher heute billiger sind als vor zwanzig Jahren, und wer hat das Nachsehen? Wem nützt die Öffnung der Grenzen bei der Arbeitssuche, und wem schadet sie? Wo kommt das Geld her, das den Aktienbesitzern, deren Zahl in den letzten zehn Jahren enorm gestiegen ist, zu Vermögen verhilft?

Die taz hat versucht, die Welt in Gewinner und Verlierer der Globalisierung einzuteilen – und dabei festgestellt: Das ist alles andere als einfach. Erstens gibt es in allen Länder Menschen, die eher profitieren, und solche, denen es wegen der Globalisierung insgesamt schlechter geht. Zweitens lassen sich fast nie Menschen finden, die nur Verlierer oder nur Gewinner sind. Sondern sie sind immer beides.

Die Weltranglistenerste

Welthandel nützt allen Beteiligten. Dieses Dogma gilt in unveränderter Form, seit es vom englischen Ökonomen David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts formuliert wurde. Wenn England und Portugal sich jeweils auf das Produkt spezialisieren, bei dessen Herstellung sie die relativ höhere Produktivität aufweisen – England auf Tuch, Portugal auf Wein, dann verfügen hinterher beide über mehr Tuch und Wein, als sie jeweils alleine produzieren konnten.

Portugal wurde auf diese Weise für lange Zeit auf die Rolle des Agrarlandes reduziert. Aber auch in England gab es Verlierer, den Landadel nämlich und die Landarbeiter, die gegen die Billigkonkurrenz der Agrarländer das Nachsehen hatten – was Ricardo sehr genau wusste, aber in seiner politischen Kampagne für Freihandel unter den Tisch fallen ließ. Er war schließlich im Hauptberuf Börsenhändler in London – und die Entwicklung zugunsten der englischen Industrie in seinem persönlichen Interesse.

Auch die Deutschen spezialisierten sich auf Produkte mit hoher Wertschöpfung, die sie bis heute teuer in den Rest der Welt verkaufen. Mit Hilfe der EU-Subventionstöpfe wurden sogar die Verlierer, nämlich die Landwirte, entschädigt. Auch deshalb herrschte beim Exportweltmeister Deutschland über Jahrzehnte die Überzeugung, dass Welthandel tatsächlich allen nützt. Jedenfalls uns allen. Die BRD – bislang ganz klar eine Gewinnerin der Globalisierung.

Der Spielmacher

Dem Investor können die neuen Schlagwörter „Offshoring“ und „Outsourcing“ keine Angst einjagen. Er ist sowieso schon in der ganzen Welt zu Hause, heute in Frankfurt am Main, morgen New York, in London, Singapur und zwischendurch in Moskau oder Baku. Er investiert im großen Stil. Weltweit – und mit gutem Grund: Während der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt weltweit schrumpft, steigen zugleich die Gewinne.

Die Umverteilung von der Arbeit zum Kapital hat sich in den letzten Jahren noch beschleunigt. In Deutschland etwa sind im vergangenen Jahr, mitten in der Wirtschaftsflaute, die Vermögenseinkommen um 13 Prozent gewachsen. Löhne und Gehälter stagnierten.

Der Grund dafür liegt in dem üblichen Spiel von Angebot und Nachfrage, das inzwischen global gespielt wird. Unternehmen können grenzüberschreitend auf ein wachsendes Angebot an Arbeitskräften zurückgreifen. Mit zunehmendem Angebot sinkt natürlich der Preis der Ware Arbeit. Zugleich wird mehr im Ausland investiert – wegen der niedrigen Löhne, aber vor allem, um neue Märkte zu bedienen. Mit wachsender Nachfrage nach Kapital steigt auch dessen Verzinsung. Globalisierungsgewinner ist der, der das nötige Kleingeld hat, sich dies zu Nutze zu machen.

Der Champion

Er ist Vorstandsvorsitzender eines multinationalen Konzerns. Dieses Jahr hat er erstmals sein Jahreseinkommen offen gelegt: 2,5 Millionen Euro – just der Durchschnitt dessen, was die Chefs der 30 DAX-Unternehmen verdienen. Allein zwischen 1997 und 2002 hatten er und seine Kollegen ihr Einkommen um 80 Prozent steigern können.

Doch so richtig entspannt ist der Chef trotzdem nicht. Gerade hat er dem Aufsichtsrat erläutert, dass er ein paar tausend Stellen in Deutschland abbauen muss. Investiert wird nur noch in Rumänien und natürlich in China. Er hat keine Wahl. Die Konkurrenz in den USA und Großbritannien erzielt mit weniger Mitarbeitern schon deutlich höhere Gewinne. Die Eigenkapitalrendite seines Unternehmens ist viel niedriger als die 15 Prozent, die die Fondsmanager und Analysten von ihm erwarten und anderswo auch bekommen.

Erst kürzlich hatte er Gerüchte gehört, ein großer US-Finanzinvestor habe sein Unternehmen angesichts des niedrigen Aktienkurses als interessantes Übernahmeobjekt bezeichnet. Die Quartalsbilanzen könne man durch Einsparungen – vulgo: Entlassungen – und Verkäufe von Konzernteilen schon aufmöbeln. Der Rest würde anschließend gewinnbringend weiterverkauft. Also muss der Getriebene die Rendite und in der Folge den Aktienkurs erhöhen, koste es, was es wolle. Andernfalls ist sein Unternehmen bald ganz verschwunden. Und er mit. Es ist manchmal verdammt hart, sich auf der Gewinnerseite zu halten.

Die Aufsteigerin

Sie ist Angestellte, arbeitet vielleicht als Entwicklerin bei IBM. Sie verdient überdurchschnittlich und legt ihr Geld international mit guter Rendite an, vielleicht in einem Osteuropa-Aktienfonds oder in Erdöl-Zertifikaten.

Ihr bleibt genug zum Anlegen übrig, denn trotz vieler anderer Anschaffungen spart sie Geld: Ihr neuer Billigwagen – der Renault Logan – wird aus Rumänien geliefert, der Laptop kommt billig aus China, das Tennisoutfit aus Kambodscha ist ein Schnäppchen, und der Kaffee wird sowieso immer billiger.

Eine Gewinnerin auf der ganzen Linie also? Mitnichten. Mit einem Bein steht die Angestellte schon auf der Verliererseite. In Estland oder Indien etwa gibt es genauso gut ausgebildete Computerexperten, die für wesentlich bescheidenere Gehälter arbeiten. IBM hat bereits angekündigt, in Deutschland bis Jahresende 1.300 Stellen zu streichen. Insgesamt baut der Konzern international sogar zehnmal so viele Stellen ab. 1,3 Milliarden Dollar Einsparungen soll das bringen. Ende 2004 hatte der amerikanische Computerriese schon sein gesamtes PC-Geschäft an ein chinesisches Unternehmen namens Lenovo verkauft.

Der Ausgebootete

Er ist Betriebsrat im Siemens-Handywerk in Kamp-Lintfort. Er ist keine fiktive Person, aber er steht stellvertretend für viele deutsche Gewerkschafter. Als Siemens die Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden hochsetzte, natürlich ohne Lohnausgleich, und bei der Gelegenheit auch eben mal das Urlaubs- und Weihnachtsgeld strich, da konnte er nichts dagegen tun. Die IG Metall, die zweitgrößte Gewerkschaft der Welt, war hilflos. Die Alternative wäre eine Betriebsverlagerung nach Ungarn gewesen, wo die Löhne nur ein Fünftel so hoch sind.

Die Unternehmen können sich den teuren Umzug der Produktionsstätten sparen. Es reicht schon die Drohung damit. „Früher haben wir mal auf Augenhöhe verhandelt“, sagt der Betriebsrat, „aber jetzt sind wir hier“, wobei er auf Kniehöhe zeigt. Die Macht wird durch die Globalisierung umverteilt hin zu den Arbeitgebern.

Der Verlierer

Schule war nicht sein Ding, er wollte lieber früh sein eigenes Geld verdienen. In der Fabrik brachte er es zuletzt auf 2.670 Euro im Monat, das ist, was man so im Schnitt verdient als westdeutscher Industriearbeiter. Seine Firma wurde aber irgendwann an einen ausländischen Konzern verkauft, die Produktion in Deutschland wenig später eingestellt. Der Name ist verschwunden wie so viele, wie AEG, Rollei, Nordmende oder Hoechst. 1,3 Millionen Industriearbeitsplätze wurden in den vergangenen zehn Jahren abgebaut.

Dann ist er auf eine Baustelle vermittelt worden. Das ging ganz gut, bis ihm der Bauleiter mitteilte, dass sein Job künftig von einem Slowaken gemacht wird. Weit mehr als eine halbe Million Bauarbeiter haben ihren Job in zehn Jahren verloren. Beim Arbeitsamt machen sie ihm jetzt keine großen Hoffnungen. Un- oder angelernte Arbeiter braucht das Land nicht mehr, jedenfalls nicht zu den Löhnen, die zum Überleben in Deutschland nötig sind.

Wenn er noch jung und bei Kräften ist, dann findet er vielleicht wieder einen festen Job, einen, der schlecht abwandern kann, vielleicht in der Kantine eines Krankenhauses oder als Wachschützer – auch wenn er viel weniger verdient. Ist er aber deutlich über 40, dann kann er sich nur noch auf Arbeitslosengeld II einstellen. So sehen die Verlierer von heute aus.

Mitarbeit: KATHARINA KOUFEN