: Verlorene Kindheit
Ein Artikel der Kontext:Wochenzeitung vom 18. Januar 2012 hat bis nach New York gestrahlt: Dort hat Inge Auerbacher gelesen, wie der Rechtsextremismus-Experte Stefan Braun aus ihrem Gedicht „Ich bin ein Stern“ zitiert hat. Inge Auerbacher ging in Stuttgart zur Schule und wurde als Jüdin vom Stuttgarter Bahnhof aus nach Theresienstadt deportiert. Wir haben die Autorin in New York getroffen
von Sandro Mattioli
Sie ist in Rente, doch das ist nicht sonderlich von Belang. 38 Jahre Arbeit als Chemikerin sind in Inge Auerbachers Erinnerungen zweitrangig. Kaum Zeit hat sie, Vorträge, Gespräche, Lesungen, Podiumsdiskussionen, viele Termine im Kalender. Auch mit 77 Jahren ist sie noch rastlos, reist durch ganz Amerika. Eben war sie auf Deutschlandtour. Sie besuchte die Leipziger Buchmesse, Chemnitz und Dresden. Mit ihrer roten Mütze wartet die Buchautorin nun im prächtigen Foyer der Stadtbücherei am Bryantpark in Manhattan, New York.
„Lassen Sie uns zu McDonald’s gehen“, sagt sie, und das Donald’s klingt nicht deutsch und nicht amerikanisch, sondern wie eine Mischung aus beidem. „Da kann man lange in Ruhe reden.“ Sie packt ihre zwei schweren Taschen und fängt zu erzählen an, tastet sich dabei vorsichtig die steile Treppe zur Straße hinunter. Was sie antreibt: ihre Vergangenheit.
Es geht nicht mehr so gut wie früher. Langsam nimmt sie Stufe um Stufe. Unten, an der 5[th]Avenue, rumort der für Manhattan typische Verkehr. Vor langer, langer Zeit hat Inge Auerbacher in Kippenheim bei Freiburg und in Jebenhausen bei Göppingen gelebt. Ihre Kindheit dort ist lange vorbei, das Leben weitergezogen, in eine neue, in die Neue Welt. Sie wohnt seit Langem in Queens, einem Stadtteil von New York City. Doch ihr Schwäbisch ist frisch wie eh und je. „Ha no!“, sagt sie und „gell“.
Die vielen Jahre hier haben kaum Spuren hinterlassen. In vertrautem schwäbischem Singsang sprudelt es aus ihr heraus – an der roten Fußgängerampel, vor dem Tresen im Schnellrestaurant, auf dem Treppenaufgang nach oben. Sie ist nicht verheiratet, mit wem redet sie denn dann Schwäbisch? „Mit mir selber“, antwortet sie, „und manchmal mit der Katz.“ Und an dem Alutischchen im ersten Stock der Fastfood-Bude. Ihre Geschichten sind hundertmal erzählt, tausendmal, und doch will sie immer wieder von sich berichten. Und das ist gut so.
Sie hätte allen Grund, auf die Deutschen heute noch böse zu sein. Doch sie hat sie nie unter Kollektivschuld gestellt. Mindestens einmal pro Jahr kommt sie zurück. Ihr Lieblingsgericht ist nach wie vor Sauerbraten. „In Chemnitz habe ich jetzt auch einen sehr guten gegessen“, berichtet sie, „die machen ihn aber mit Kartoffeln, net mit Spätzle.“
„Ihre Transportnummer – Bitte genau beachten!“
Der Grund, weshalb Inge Auerbacher so oft aus ihrem Leben erzählt, ist einer, der nie vergessen werden sollte. Der sich mit Orten verbinden lässt, mit einem Datum, mit amtlichen Vorgängen, die von Historikern untersucht worden sind, zigfach in der Literatur und im Film thematisiert wurden. Und ist doch immer noch unverständlich, wie er jetzt vor einem liegt, inmitten des Schnellrestaurants, vor Inge Auerbacher auf dem Tisch: ein Schreiben der „Bezirksstelle Württemberg der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Es ist datiert vom 14. August 1942, fast 70 Jahre her, unterschrieben von Ernst Israel Moos. „Ihre Transportnummer – Bitte genau beachten!“ steht oben auf dem vergilbten Blatt Papier, daneben handschriftlich notiert die Nummer 408. „Betrifft: Abwanderung“. So sieht es aus, wenn ein Staat geordnet und mit aller Gründlichkeit einen Massenmord organisiert, nämlich den an seinen jüdischen Bürgern.
„Ich war im Transport XIII/1“, sagt Inge Auerbacher. „Die Dreizehn stand für Stuttgart, die Eins für den ersten Transport.“ Mit einem Bus der Stuttgarter Straßenbahnen wurde die Familie abgeholt. Auf dem Killesberg hatten die Nazis eine Sammelstelle eingerichtet, am Nordbahnhof begann dann die beschönigend als „Abwanderung“ bezeichnete Deportation. Am Bahnhof, erinnert sich Auerbacher, wurden sie in einen Raum gepfercht, der einem Gefängnis glich. „Wir hätten eigentlich zuerst nach Riga gebracht werden sollen. Dann aber hatte mein Vater einen Brief an die Gestapo geschrieben, dass er im Ersten Weltkrieg gedient habe, Träger des Eisernen Kreuzes sei und schwer kriegsverletzt.“
Die staatlich organisierte sogenannte Abwanderung führte für Millionen Menschen in den Tod, meist in einer Gaskammer. Zusammengepfercht in Transportwaggons, brachte der deutsche Staat seine Bürger nach Auschwitz oder Treblinka, weil sie jüdisch waren. In Vernichtungslager, die er eigens für den Massenmord gebaut hatte. Auch Inge Auerbacher und ihre Eltern mussten in einen von den Nazis bestellten Zug steigen, allerdings nicht in Güter-, sondern in normale Reisewaggons. Ihre Reise endete in Theresienstadt und damit nicht in einem Vernichtungslager.
Ein Glück, wenn man so sagen möchte, denn die Familie Auerbacher – Vater Berthold, Mutter Regina und die kleine, sieben Jahre alte Inge – überlebte die Shoah. Ein Glück, dass leider nur wenigen der in Theresienstadt festgehaltenen Menschen vergönnt war: Von 140.000 Menschen, die im Lauf der Jahre in das Lager gebracht wurden, starben 88.000 in Gaskammern, vor allem in Auschwitz. Weitere 35.000 Menschen überlebten Krankheiten und die Mangelernährung nicht. Immer wenn Adolf Eichmann zu Besuch ins Lager gekommen war, einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung der europäischen Juden, gingen danach besonders viele Fahrten nach Auschwitz. Die Auerbachers standen die Tortur durch.
Die Befreiung kommt für die kleine Inge Wochen später
Die kleine Inge und ihre Eltern waren bis zum Ende des Krieges inhaftiert. Sie waren gemeinsam mit einem Ehepaar und dessen Tochter untergebracht, Ruth, die zur besten Freundin der kleinen Inge in Theresienstadt wurde. Heute, mit 77 Jahren, erinnert sich Inge Auerbacher noch, wie sie ihrer Freundin versprach, die Puppenkleider, die sie von ihr bekommen hatte, in Freiheit wieder zurückzugeben. Doch dazu kam es nicht: Ruth und ihre Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. „Sie erlebte nicht einmal ihren zehnten Geburtstag“, sagt Inge Auerbacher. Die Puppe hat sie dem Museum von Yad Vashem gegeben.
Am 8. Mai 1945 erlebte die Familie Auerbacher die Befreiung des KZs durch russische Truppen. Doch Inge war an Tuberkulose erkrankt und durfte das Lager erst Wochen später verlassen. Mit ihren Eltern zog sie nach Jebenhausen bei Göppingen. Dort fühlte sich die Familie aber nicht mehr heimisch; sie wanderte nach Amerika aus, wo Inge Auerbachers Onkel lebte.
Am Nachbartisch wird Deutsch gesprochen und Cola getrunken. Viele Touristen stillen hier mit billigen Burgern ihren Hunger, so auch eine Frau aus Köln, die mit ihrem Sohn nach New York gekommen ist. Inge Auerbacher kommt mit den beiden ins Gespräch. „Wann fliegen Sie denn zurück?“, fragt sie. „Am Dienstag“, antwortet der Sohn. Er habe eine schöne Zeit in New York verbracht. „Ich wohne hier, ich bin hier zu Hause“, sagt Inge Auerbacher und lächelt. „Sie haben Glück“, sagt der Kölner. „Na ja“, antwortet Inge Auerbacher.
Jahre nach der Befreiung beginnt Inge Auerbacher, ihre Erinnerungen festzuhalten. Sie hat schon in der Schule gerne Geschichten aufgeschrieben und auch, als sie ein weiteres Mal an Tuberkulose erkrankte, dann schon in den USA. Doch erst viele Jahre später sollte daraus ein Buch werden, ein Bestseller: „Ich bin ein Stern“. Der Bericht über ihre Kindheit kommt 1986 in den USA auf den Markt. Inzwischen erscheint das Buch in der 27. Auflage, es wurde in sieben Sprachen übersetzt, fünf weitere Werke folgten.
Inge Auerbachers aktuelles Buch, „Verlorene Kindheit“ (im Chemnitzer Verlag erschienen), knüpft an „Ich bin ein Stern“ an. In dem Band stehen sich zwei Kindheitsgeschichten gegenüber: die der polnischen Christin Bozenna, die mit ihren Eltern zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wird, und die von Inge Auerbacher.
Wenn Inge Auerbacher einmal angefangen hat zu erzählen, kann sie kaum mehr aufhören. Schon über eine Stunde hat sie jetzt aus ihrem Leben berichtet. Sie erzählt spannend, erinnert sich an lange zurückliegende Dinge, ihre Geschichten wirken lebendig. Vor sich auf dem Tisch hat sie jetzt einen Stapel Bücher, alle von ihr. „Das hier ist mein bestes Buch“, sagt sie und zeigt auf einen Band. „Aber das hier ist auch sehr gut.“ Ihr nächstes Buch hat sie bereits in Planung: Sie möchte über Menschen schreiben, die sie in der U-Bahn in New York interviewt hat.
Am Nachbartisch sitzt jetzt ein junges Pärchen. Die Frau fasst in die Pommestüte, während sie sich mit ihrem Freund über die „unglaubliche Stadt New York“ unterhält. Wieder sind deutsche Satzfetzen zu vernehmen. Aus Stuttgart kommen die beiden. Inge Auerbacher freut sich darüber. Aus einer Mappe holt sie ein Plastikbeutelchen und legt es auf den Tisch. „Das war der Stern. Meine Mutter hat ihn auf einen Trägerstoff genäht, um ihn an meiner Jacke anheften zu können.“ Inge Auerbacher zeigt auf eine Zacke des gelben Sterns. „Hier, da sieht man noch die Löcher im Stoff.“
Jeden Tag, wenn Inge Auerbacher mit dem Zug von Göppingen nach Stuttgart in die Schule fuhr – in Göppingen wurden jüdische Kinder wie sie nicht mehr unterrichtet, an der jüdischen Schule in Stuttgart schon –, musste sie diesen Stern an ihrer Jacke tragen, sich als Jüdin ausweisen damit. Ihr Vater habe ihr immer eingebläut, berichtet Auerbacher, sie solle sich im Zug so hinsetzen, dass man den Zwangsstern nicht sehe.
Sie will kein Mitleid, sondern ein Miteinander
Obwohl sie viel, viel Leid erfuhr in Deutschland, ist sie dem Land immer noch verbunden. Ihre Heimat, sagt sie, sei jedoch der Ort, wo sie wohne, also New York; sie ist außerdem schon vor langer Zeit Amerikanerin geworden. „Der Platz, wo man geboren ist, bleibt dennoch an einem hängen“, sagt sie, „den wird man nicht mehr los.“ Inge Auerbachers Leben wird von diesem Platz bis heute bestimmt. „Ich will kein Mitleid. Ich will mit den Leuten sprechen, sie sollen es wissen, sie sollen etwas daraus lernen. Und sie sollen keine Angst haben. Geht doch mal in eine Moschee! Oder einen Hindutempel!“
In Queens, wo Inge Auerbacher lebt, hat sie auf der einen Seite Muslime als Nachbarn und auf der anderen eine Hindufamilie. Wenn es Feste zu feiern gibt, feiern alle gemeinsam. Das ist es, was ihr so wichtig ist: Verbindungen schaffen, kommunizieren. Gemeinsamkeiten und Trennendes erkennen. „Ich habe so viele Jahre im Analyselabor gearbeitet, für mich ist jeder Mensch gleich“, sagt sie. „Das Blut kommt nicht von einem Juden oder einem Farbigen, alle Bluttypen kommen überall vor. Es kommt von einem Menschen.“