: Erotische Häppchen
2000er Fingerfood, Sushi, Molekulares – Sattwerden ist out, weniger ist mehr. Teil 7 unserer Serie
■ Zutaten: 1 Salatgurke Japanischer Rettich, eingelegt 2 Noriblätter, halbiert Sushi-Reis, gekocht, mit Reisessig gewürzt Wasabi, 2 TL Sesam
■ Rezept: Gurke und Rettich in lange Stifte schneiden. Halbes Noriblatt auf eine Bambusrollmatte legen, mit Reis knapp 1 cm bestreichen. Sparsam mit Wasabi bestreichen, mit Gurke und Rettich belegen, mit Sesam bestreuen. Alles zu einer Rolle formen, fest andrücken, Matte vorsichtig abziehen. In Stücke schneiden, mit eingelegtem Ingwer und Sojasauce servieren.
VON TILL EHRLICH
Genuss ist ein flüssiger Begriff, was man darunter versteht, wird ständig neu verhandelt. Die Nullerjahre sind auch auf diesem Gebiet eine Zäsur. Einerseits wird auf den real existierenden Sozialabbau in Deutschland mit einem irrationalen „Geiz ist geil“ geantwortet. Andererseits lässt sich nicht mehr verdrängen, dass hirnloser Angstkonsum einen Preis hat, auf Massentierhaltung, Industrie und Raubbau beruht. In den Mittelpunkt rückt die Ethik des Essens. Was eigentlich ist gutes Essen? Wer wird davon ausgeschlossen, und welchen Preis darf es haben?
Eine einzige Antwort darauf gibt es nicht. Aber ein Schlagwort: authentisch. Nun muss alles und jeder „authentisch“ sein. Authentisches Essen soll Genuss mit Ethik versöhnen. Der kleinste gemeinsame Nenner lautet: Weniger ist mehr. Das alte protestantische Diktum, hinter dem sich Sinnesfeindlichkeit versteckt, ist längst Allgemeingut. Das ist nichts Neues, passt aber in die Zeit. Folgerichtig wird der Genuss asketisch: Im freiwilligen Entzug steckt auch Lust, die man genießen kann. Dass Verzicht auch Gewinn sein kann, ist eine Binse, die in archaischen Opferritualen antizipiert war, im religiösen Fasten weiterlebte und heute im säkularen Schlankheits- und Fitnessgebot allgegenwärtig ist.
Lagerfeld, lange Zeit bekannt als Genießer kulinarischer Freuden, hat das richtige Timing. Pünktlich zum Beginn des Jahrzehnts, im Jahr 2000, beginnt er eine brutale Diät, nimmt 42 Kilogramm ab, stellt seine Ernährung um, veröffentlicht ein Buch darüber und redet in jede Kamera hinein, dass er nur Mode für Schlanke mache. Bald predigen Politiker, prominente Multiplikatoren und Lobbyisten bei „Christiansen“, wie toll es sei, mal den „Gürtel enger zu schnallen“, wenn es um Sozialabbau, Rentenkürzung, Kündigungsschutz und Leiharbeit geht. Armut ist sexy. Freiwillig abnehmen gehört zum guten Ton.
Fingerfood wird Trend, ersetzt bei öffentlichen und privaten Empfängen immer öfter das gemeinsame Essen am Tisch. Man setzt sich nicht mehr, um zu essen, alles findet unverbindlich im Stehen statt. Während man blöd rumsteht, kommt billig angemietetes Servicepersonal sporadisch mit einem Tablett vorbei. Darauf findet sich wenig: ein Klecks Staudenselleriemousse, rohe Artischockenwürfelchen mit Pesto, eine Blutwurstpraline, Tomaten-Gazpacho im Schnapsglas oder auf Zahnstocher gespießte Mozzarellakügelchen.
Häppchen sind erotisch, machen nicht satt, aber gierig. Man bleibt in einem Schwebezustand, gereizt und unerfüllt. Daran ändert nicht, dass sie kunstvoll und aufwendig arrangiert werden. Sushi wird zum Trend, verbindet Askese und schönes Design mit dem Kitzel des Rohen und Fremden. Sushi passt gut in die postmoderne Fingerkultur, hier steht das ganz frisch Handgemachte im Vordergrund. Die Schönheit der japanischen Form, ihre rituelle Reduktion und geheimnisvolle Askese, haben den Westen schon lange fasziniert.
Auch die Molekularküche, die der katalanische Koch Ferran Adrià zum kulinarischen Ereignis der Nullerjahre macht, und die 2007 als großer Bluff die documenta 12 erreicht, ist an der Formensprache und Askese der japanischen Küche orientiert. Adrià spielt geschickt mit Design, Purismus und kulinarischen Erwartungshaltungen, die er gern ins Leere laufen lässt und als postmoderne „Dekonstruktion“ verkauft. Aber er etabliert auch neue Zusatzstoffe und Küchentechniken aus der Industrie, ohne die sein virtuoser Zauber nicht möglich wäre. Das Fooddesign der Molekularküche orientiert sich stark an der Optik von Konditoreiprodukten und industriellen Süßwaren. Die Häppchen sehen immer öfter aus wie Pralinen, Petit Fours, Bonbons, Cremerollen, Lutscher, Geleewürfel und Eiscreme – schmecken aber oft salzig und herb.
■ Die Serie: Mangel, Wirtschaftswunder, Globalisierung. Oder anders: Beefsteak ohne Beef, Sahnetorte, Toast Hawaii. Mit einem Blick auf die Teller des letzten Jahrhunderts hat die sonntaz in den vergangenen Wochen versucht, die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu erklären. Genauer: mit einem Blick auf jenes Gericht, das im jeweiligen Jahrzehnt besonders gern und viel gegessen wurde. Wie spiegeln Küchentöpfe die Zeit, in der man lebte? Diesmal: die nuller Jahre. Deutschland isst im Stehen, frönt der Askese, und Häppchen sehen wie Pralinen aus. Am 28. April, Teil 8: Essen im Osten. Ein kulinarischer Ritt durch 41 Jahre DDR.
■ Das Jahrzehnt: 9/11, Irakkrieg, G 8 Genua, Hedgefonds, Ackermann, Lehman, Finanzkrise, Boni, Hartz IV, Riester-Rente, „Kill Bill“, MP3, Google, Facebook, Steve Jobs, „Big Brother“, Gentrifizierung, Ostalgie, Amy Winehouse, Bier alkoholfrei, BSE, Rauchverbot.
Dunkle Edelschokolade wird Trend und als Verheißung inszeniert, als Überwindung der billigen Süße industrieller Milchschokolade. Sie enthält weniger Zucker und wird nun aus hochwertigeren Zutaten gefertigt und grammweise teuer vermarktet. Bald erteilen ihr auch Ernährungsexperten die Absolution, dunkle Schokolade, heißt es, sei gesund.
Während industrielle Produkte für den Konsumenten billiger werden, erreichen Bioprodukte den Mainstream, zugleich boomt die Slow-Food-Bewegung. Sie verwandelt die vom „Aussterben bedrohten“ alten Bauernprodukte in exklusive Marken. Dazu werden „vergessene“ regionale Sorten akquiriert und in die „Arche des Geschmacks“ aufgenommen. Eine Liste der vom Aussterben bedrohten Geschmacksvielfalt, deren handwerkliche Delikatessen sich als das Besondere und Seltene zu Mondpreisen vermarkten lassen. Ein raffiniertes Geschäft mit der Sehnsucht, das die kleinbäuerliche Landwirtschaft ebenso beschwört, wie den bedrohten Handwerkerstolz, die klösterliche Wirtschaftsweise oder das vorindustrielle Manufakturwesen. Die guten alten Dinge, die aus Zeit und Raum gefallen waren, werden wieder eingesammelt und kehren als rare Luxusgüter zurück, als bedrohtes „Erbe“ einer „ganzheitlichen“ Lebenswelt. Alles wird gut.
Obst von der Streuobstwiese, vergessene Gemüsearten, Omas Schmorbraten, westfälischer Bauernschinken, geangelter Fisch: Die Renaissance des kulinarisch Ursprünglichen wirkt zunächst wie ein Gegenentwurf zu Finger- und Industrie-Food und ist mehr als eine Wiederholung des Alten. Anders als in den Fünfzigerjahren, wo man das Entbehrte hemmungslos verschlang, wird die neue Lust an ländlicher und regionaler Küche durch Askese legitimiert. Denn die meisten Produkte sind, wenn sie handwerklich hergestellt wurden, nicht nur teuer, sondern gehaltvoll. Dank des Geschmackträgers Fett besitzen sie Intensität. Deswegen werden sie wiederum als Häppchen serviert. Genuss zeigt sich in den Nullerjahren nicht mehr als Erlebnis von Fülle, sondern als Fähigkeit, sich auszukennen, intelligent auszuwählen und sich beherrschen zu können.