: Psychosozial nicht so gut geraten
CRIME SCENE Vorsicht, wenn dein Zwilling dir rät, dir den Bart abzurasieren! Marie Hermanson mischt in „Himmelstal“ Thriller und Science-Fiction
Die Schwedin Marie Hermanson ist keine herkömmliche Thrillerautorin. Als Vertreterin des psychologischen Romans bewegt sie sich in einer literarischen Sphäre, die die Grenze zwischen U- und E-Literatur, so es eine solche überhaupt geben sollte, vollends verschwimmen lässt. Dass sich aus prekären psychischen Zuständen von Charakteren beträchtliche literarische Spannung gewinnen lässt, hat Hermanson (etwa in „Muschelstrand“ oder dem „Mann unter der Treppe“) schon häufiger bewiesen.
In ihrem neuen Roman, „Himmelstal“, mischen sich Thriller- und Science-Fiction-Elemente.
Ein Schwede kommt in die Schweiz. Daniel Brant, so sein Name, besucht seinen Zwillingsbruder Max, der in einer exklusiven Psychorehaklinik seinen Burn-out kuriert. Das zumindest ist die Lage der Dinge, wie Max sie seinem Bruder gegenüber darstellt, der ihn nicht so gut kennt, wie er sollte. Die Zwillinge sind nämlich nicht miteinander groß geworden. Während Daniel als Kind bei der Mutter lebte, wuchs Max beim Vater auf, dessen neue Frau eigene Erziehungsmethoden verfolgt. Ob es seine lieblos verbrachte Kindheit ist oder möglicherweise eine Folge seiner schwierigen Geburt als zweiter Zwilling, lässt der Roman geschickt offen; auf jeden Fall ist Max auf psychosozialer Ebene nicht so geraten, wie es wünschenswert wäre.
Als Daniel endlich herausfindet, was für eine Klinik „Himmelstal“ eigentlich ist, ist es bereits zu spät. Max hat ihn mit einer fingierten Geschichte dazu gebracht, sich den Bart abzurasieren und sich als sein Zwillingsbruder auszugeben. So konnte Max als Daniel das Tal verlassen, während dieser als Max dort bleibt und vergeblich auf die Rückkehr seines Bruders wartet. „Himmelstal“, das sich in einem von außen unzugänglichen Alpental befindet, erweist sich als experimentelles Freiluftgefängnis für gefährliche Psychopathen, in dem es nicht einmal die Möglichkeit der Kommunikation mit der Außenwelt gibt. Und natürlich glaubt niemand Daniel die Geschichte von der getauschten Zwillingsidentität, denn alle halten ihn ja für den Psychopathen, der sein Bruder ist. Zumindest scheint es so.
Obwohl wir von Anfang an durch gezielte Hinweise gesteuert wurden und somit viel mehr wissen und viel misstrauischer sind als der arglose Protagonist selbst, werden wir dennoch konstant in Spannung gehalten, die zum Großteil darin besteht, dass die wahre Identität und Handlungsmotivation aller beteiligten Personen bis fast zum Schluss weitgehend unklar bleibt. Marie Hermanson bekennt sich einerseits insofern zum Thrillergenre, als es zu diesem Schluss sowohl eine überraschende Entdeckung als auch eine überraschende Wendung geben wird. Andererseits passt das dann allzu glatte Happy-End nicht wirklich zu dem zuvor so lange und sorgfältig aufgebauten Spannungsbogen. Im Grunde hätte man auch gern noch mehr über Max erfahren, der zunächst als eine von zwei Hauptfiguren der Geschichte aufgebaut wird, aus der er später irgendwie allzu gründlich verschwunden bleibt. So bleibt man mit dem ganz vagen Gefühl einer ganz kleinen Enttäuschung zurück. Aber dafür hat man sich zuvor schon ziemlich lange ziemlich gut in Atem halten lassen.
KATHARINA GRANZIN
■ Marie Hermanson: „Himmelstal“. Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer. Insel Verlag, Berlin 2012, 428 Seiten, 14,99 Euro