Held kam aus der Tiefe des Raumes

MYTHOS Deutschland gegen England 1972, das größte Spiel der deutschen Fußballgeschichte. Mit Günter Netzer als Lichtgestalt. So war es doch. Wirklich? Eine Rekonstruktion

■ Das Spiel: EM-Viertelfinale, Hinspiel, England – Deutschland, 29. April 1972, Wembley-Stadion, London, 100.000 Zuschauer, Schiedsrichter: Heliet (Frankreich)

■ Tore: 0:1 Hoeneß (26.), 1:1 Lee (77.), 1:2 Netzer (85., Foulelfmeter), 1:3 Müller (88.)

■ England: Banks – Madeley, Moore, Hunter, Hughes – Bell, Ball, Peters – Lee, Chivers, Hurst (60. Marsh) – Trainer: Ramsey

■ Deutschland: Maier – Höttges, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner – Hoeneß, Netzer, Wimmer – Grabowski, Müller, Held – Trainer: Schön

■ Das Turnier: Die Europameisterschaft 1972 wurde nicht als kompaktes Turnier gespielt, die Qualifikationsrunde begann bereits 1970. 32 Mannschaften spielten die Viertelfinalgegner aus, die die Teilnehmer der Finalrunde in Belgien ermittelten. Im Endspiel gewann die Bundesrepublik am 18. Juni 1972 in Brüssel 3:0 gegen die Sowjetunion.

VON PETER UNFRIED

Aus meinen ersten zehn Lebensjahren sind mir drei Bilder im Gedächtnis geblieben: wie der Raum aussah, in dem mein Vater aufgebahrt wurde; wie Netzer im WM-Finale 1974 auf der Tribüne saß und weinte; wie Netzer 1972 beim EM-Viertelfinale in Wembley aus der Tiefe des Raumes kam. Sonst erinnere ich nichts. Aber diese drei Momente ganz genau. Das bildete ich mir jedenfalls bis vor wenigen Tagen ein.

Es ist der Abend des 29. April 1972. Ich bin acht. Mein Interesse an Fußball ist begrenzt. Aber wir sind zu Besuch bei Onkel Alois. Und der schaltet den Fernseher ein. So wird das 3:1 der deutschen Nationalmannschaft in Wembley gegen England das erste Fußballspiel, das ich live im Fernsehen sehe. In Farbe. Weil Alois sich schon für die Olympischen Spiele in München einen Farbfernseher gekauft hat. Am nächsten Tag beschließe ich, mir die Haare wachsen zu lassen. Und in den Fußballverein einzutreten. Ich habe jetzt einen Helden. Er heißt Günter Netzer.

Wann immer in den Jahren danach der deutsche Fußball mal wieder gar nicht auszuhalten war – und das kam ja vor den Nationaltrainern Klinsmann und Löw öfter vor – schloss ich die Augen. Dann sah ich Netzer mit langen, blonden Haaren und im grünen Ausweichtrikot der Nationalmannschaft über den heiligen Rasen von Wembley schweben. Und dann war alles gut.

Das erste Spiel, das ich sah, war das beste überhaupt. Es kam kein besseres mehr hinterher. So denken viele. Und so dachte ich. Bis ich vor ein paar Wochen anfing, der Sache nachzugehen. Weil sich das Spiel jetzt zum vierzigsten Mal jährt. Falls jemand denkt, das große Spiel in Wembley sei bei der WM 1966 gewesen mit dem berühmten dritten Tor: Ja, der Mythos ist auch groß. Aber der von 1972 ist größer. Das liegt daran, dass wir dieses Spiel nicht tragisch verloren, sondern grandios gewonnen haben. Zeit für eine Mythos-Inspektion.

In Frank Lemkes Buch „Fußballmythen“ heißt es: Kinder brauchen Märchen. Männer brauchen Mythen. Wembley 1972 war mein erstes Fußballmärchen und wurde mein maximaler Mythos, als ich erfuhr, dass Netzers Spiel auch noch „links“ war. Die Theorien des argentinischen Trainers Cesar Luis Menotti über „linken Fußball“ wurden in den Achtzigern unsere Pflichtlektüre, mit meinem Freund Uli diskutierte ich die Polit-Fußball-Analogien von Norbert Seitz. Ab 1993 rauchten wir den gleichen Tabak wie Volker Finke. Und bald darauf erklärte der Literaturkritiker Helmut Böttiger Netzer zur „Symbolfigur für eine andere Bundesrepublik“. Aah!

Ein unverstandenes Genie

Das 3:1 in Wembley vollzog sich zwei Tage nach Barzels gescheitertem Misstrauensvotum gegen den ersten SPD-Kanzler Willy Brandt. Das musste etwas bedeuten. Nämlich: Netzer war Aufbruch gegen das Adenauer- und Barzel-Deutschland, geleitet von 1968, seine langen Bälle „atmeten den Geist der Utopie.“ Netzer stand für das Nichtangepasste. Er war noch nicht der konservative Fernsehnörgler, der an der Seite von Delling die angeblichen deutschen Tugenden propagierte. Er war das unverstandene Genie, das an der deutschen Provinzialität litt. Wie wir.

Je schlimmer der aktuelle Fußball zu sein schien, desto mächtiger wuchs der Mythos von Netzer und Wembley. Weil er widerlegte, was manche Nachkriegsdeutsche bei allen Erfolgen plagte: dass die Nationalmannschaft zwar gewann, aber immer so „deutsch“, also scheußlich. Was wichtig war, denn es verhinderte Identifizierung. Wir wollten, wir mussten ja am bösen Deutschland leiden, das war heilige Pflicht. Aber eben auch hart.

Wann immer wir richtig schön litten: Irgendwann machte sich die dialektische Seele in zwei Seufzern Luft. Uli rief: Wembley! Und ich: Netzer! Und irgendwann sagte einer: Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.

Der Satz ist durch die deutsche Geschichte getragen worden wie jener des Reporters Herbert Zimmermann von 1954, dass Rahn aus dem Hintergrund schießen müsste.

Rahn müsste schießen. Netzer kam aus der Tiefe des Raumes. In diesem Spiel muss sich Übernatürliches vollzogen haben. Ein Fußballfeld hat ja keine Tiefe, nur Länge und Breite. Der Satz stammt von Karl Heinz Bohrer, einem der wichtigsten deutschen Publizisten nach 1945 und bis letztes Jahr Herausgeber der Intellektuellen-Zeitschrift Merkur. Bohrer, Jahrgang 1932, kam aus einem hitlerfeindlichen Elternhaus, was ihn freier denken ließ, als das von Adorno und der Schuld der Eltern geprägte linksliberale Establishment. Bohrer war so intellektuell, dass ihn der neue FAZ-Herausgeber Joachim Fest Ende 1973 als Literaturchef durch einen Popkritiker ersetzte, seinen Freund Marcel Reich-Ranicki.

Ausgerechnet dieser Bohrer publizierte im Feuilleton der FAZ den Essay „Wembley“, als das Sprechen über Fußball in halbgebildeten Ständen noch weitgehend verpönt war. Durch sein Heldenepos wurde deutscher Fußball satisfaktionsfähig.

Doch als ich die Leute fragte, die all die Jahre Bohrer zitiert hatten, stellte sich heraus: Den Originaltext hatte keiner gelesen. Ich auch nicht. Ich besorgte mir also den Text aus dem Archiv und las ihn. Zuerst fiel mir auf, dass er am 27. Oktober 1973 erschienen war. Eineinhalb Jahre nach dem Spiel! Es ist eine Ich-Geschichte, sie handelt davon, wie Bohrer im Herbst 1973 nach Wembley fährt, weil England gegen Polen um die WM-Qualifikation spielt – und scheitert.

Aber wann kommt Netzer aus der Tiefe des Raumes? Den Satz gibt es gar nicht. Es heißt: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte ‚thrill‘.“ Der Text handelt nicht von Günter Netzer, es geht eigentlich um Wembley. Das ist für Bohrer der Ort, der dem Fußball etwas hinzufügt, was nicht allein auf dem Rasen entstehen kann. Thrill. Erbeben. Schauer. Ich war immer davon ausgegangen, dass Bohrer den Satz live aus dem Stadion heraus verfasst hatte. Aber eineinhalb Jahre später?

Ich rufe ihn an.

Aber Sie waren beim 3:1 damals schon in Wembley, Herr Bohrer?

Nein, sagt er. Er habe das Spiel am Fernseher gesehen. Wohl in Frankfurt. Er war damals noch Literaturchef der FAZ.

„Hören Sie, was wollen Sie von mir?“, fragt er. Nicht unfreundlich, aber irritiert. „Die Tiefe des Raumes“, sage ich.

Er habe diesen Text geschrieben, damals. „Und dabei fiel mir dieser ominöse Satz ein. Und die Redaktion hat ihn so gedruckt.“ Das war’s. Bohrer sah in Netzers Spiel seine hohen ästhetischen Ansprüche eingelöst. „Weiter gibt es da nichts zu sagen.“

Es wird dann ein längeres Telefongespräch. Bohrer sitzt in seinem Arbeitszimmer in London. Er lebt seit zehn Jahren dort, vorher war er in Paris. In Deutschland war er seit 1974 nur noch beruflich. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren hat er sein Fußballinteresse aufgegeben. Fußball bewegte ihn nicht mehr.

Haben Sie sich das Spiel später noch mal angeschaut? Er glaubt, nicht.

Die sich danach vollziehende Hinwendung der Intellektuellen zum Fußball beobachtete er. Sie enthielt für ihn aber immer eine „proletarische Geste“, die er nicht gehabt habe. Auch die politische Dimension des Mythos beschäftigte Bohrer nicht. „Netzer mit links in Verbindung zu bringen? Das wäre mir nicht unsympathisch gewesen, spielte aber für mich keine Rolle.“

Hoeneß und die Haare

Ich dachte: Wenn Bohrer 1972 gar nicht in Wembley war, seinen Satz anderthalb Jahre später in einem Nebengedanken fallen ließ und das für die Mythologisierung reichte, dann war es höchste Zeit, eine DVD zu bestellen und sich das Spiel nach vierzig Jahren zum zweiten Mal anzusehen. Das beste Spiel ever. Ich habe inzwischen wieder einen Kurzhaarschnitt, dafür hat der Hoeneß von 1972 einen Haufen Haare auf dem Kopf. Er ist zwanzig, hat gerade sein erstes Länderspiel gemacht und sieht aus wie der Nibelungen-Siegfried.

Man kann zwar Fußball von früher kaum mit dem von heute vergleichen. Aber man sieht, dass Deutschland keinen Stil hat, den man erlernt hätte wie Barcelona oder die Löw-Nationalmannschaft. Wie auch – die Mannschaft ist von Zufall und Verletzungen zusammengestellt worden. Netzer spielt, weil sein ewiger Kölner Konkurrent Wolfgang Overath verletzt ist. Aber man sieht auch, dass das deutsche Team einige der damals besten Spieler der Welt hat und intuitiv vieles richtig macht. Sie lassen den Ball mit beachtlichem Tempo laufen. Heute würde man sagen: Ballbesitzfußball.

Ein wichtiger Grund für den Mythos ist, dass die Engländer als Weltmeister von 1966 höchstes Niveau definieren – und in Wembley praktisch nicht zu schlagen sind. Ich denke: Das sollen diese Engländer sein? Der Gordon Banks in meinem Kopf war der beste Torwart der Welt. Dieser hier? Um Gottes willen. Der Weltmeisterkapitän Bobby Moore in meinem Kopf war ein Stratege und der beste Tackler der Welt. Dieser hier läuft rum wie Falschgeld. Sir Alf Ramseys flügelloses England spielt längst nicht nur hohe, weite Bälle, sondern will mitspielen. Aber sie können es nicht. Im Grunde bestätigen die Bilder einen notorischen Irrtum der Fußballgeschichte: England seit 1966 grandios zu überschätzen.

Eiskalt im Hexenkessel

Das Spiel wird entschieden durch schwere individuelle Fehler. Dem deutschen 1:0 geht ein dilettantischer Ballverlust von Moore im eigenen Strafraum voraus. Hoeneß’ abgefälschtes Schüsschen lässt Banks rein. Vor Lees Ausgleich zum 1:1 spielt Beckenbauer einen Fehlpass, er und Netzer lassen Bell ziehen.

Und dann kommt der Moment, der Netzer zu dem gemacht hat, was er ist: der Strafstoß zum 2:1. Der größte Spieler der Welt bleibt in der entscheidenden Sekunde im Hexenkessel von Wembley eiskalt und haut das Ding rein. So war es doch?

Nein, so war es nicht. Netzers Elfer ist ein schwach und ängstlich geschossener Ball mit der Innenseite. Banks hat beide Hände am Ball – und lässt ihn trotzdem rein. Weil ihm das immer noch nicht reicht, macht er dann noch einen riskanten Abwurf zu Linksverteidiger Hughes, der zu Ballverlust und Müllers 3:1 führt.

Bei alledem ist die große Frage: Kommt Netzer tatsächlich aus der Tiefe des Raumes? Er agiert nicht wie eine Nummer 10 von damals, sondern wie ein heutiger sogenannter Sechser vor der Abwehr – nur dass er keine Bälle erobert. Aber dadurch hat auch er – wie Beckenbauer – das Spiel vor sich. Und manchmal eröffnet er es nicht mit einem Pass, sondern mit einem Sprint durch das gesamte Mittelfeld. Damit ist offenbar die „Tiefe des Raumes“ gemeint, aus der er kommt. Zählbares entsteht daraus allerdings nicht.

Und das legendäre Wechselspiel mit Beckenbauer; Bild hat dafür den historischen Begriff „Ramba Zamba“ geprägt. Ja: Manchmal sichert Netzer für Beckenbauer ab. Faktisch spielen sich die beiden nach meiner Zählung zwanzigmal den Ball zu. Keiner dieser Bälle ist spektakulär. Beckenbauer ist aber grandios, keine Frage. Man sieht sofort, dass er der Jahrhundertspieler ist – und nicht Netzer.

Nach der ersten Enttäuschung und sofortigen Relativierung – hätte man sich ja denken können, dass das nicht so toll war – schaue ich mir das Spiel noch mal an. Nach endlosem Hin-und-her-Spulen der entscheidenden Szenen bleibt eine erstaunliche Erkenntnis: Ein deutscher Spieler hat alle drei Tore vorbereitet. Er legt Hoeneß’ Tor auf, er bereitet Netzers Tor vor, er leistet den entscheidenden Ballgewinn vor Müllers Tor. Dieser Spieler ist eindeutig der Matchwinner. Seltsamerweise kommt er aber im Mythos Wembley nicht vor. Bohrer hat ihn ignoriert. Alle haben ihn ignoriert. Die meisten wissen vermutlich nicht mal, dass dieser Mann überhaupt mitgespielt hat.

An einem trüben Tag im April parkt ein Golf direkt vor dem Signal Iduna Park, also vor dem Dortmunder Westfalenstadion. Ein Mann geht auf das Auto zu, klopft an die Fensterscheibe und ruft: „Sigi, Mensch, wie geht‘s. Alles wieder gut?“ Siegfried Held nickt. Der Mann dröhnt: „Wird schon wieder, was?“ „Die Stimme nicht mehr“, bellt Held.

Er hatte im Dezember eine schwere Operation an den Stimmbändern. Eigentlich eine Raucherkrankheit. Einmal in fünfzig Fällen erwischt es einen Nichtraucher. In diesem Fall ihn. Ansehen tut man es ihm nicht. Er sieht gut aus. Trägt einen Anzug und die Augenbrauen so buschig wie eh und je. Direkt am Stadion ist das Clubmuseum der Borussia. Dort kommt man an einem Schrein vorbei für den verstorbenen Lothar Emmerich und an einem für Held, der heute Fanbetreuer des BVB ist. Beide waren 1965 Europapokalsieger mit der Borussia. In Emmas Schrein sind vergoldete Fußballschuhe und eine Torjägerkanone. Bei Held sind nur Fotos. Keine Pokale, keine Schuhe, keine Trikots. Er hat nichts aufgehoben. „Alles irgendwann rausgeflogen“, sagt er. Im Grunde gilt das auch für seine Erinnerungen.

Während Beckenbauer und Netzer im Fernsehen regelmäßig so tun, als seien ihre großen Spiele erst gestern gewesen, merkt man bei Held, wie lange das in Wahrheit alles zurückliegt: das legendäre WM-Finale 1966, in dem er Mittelstürmer war. Das noch legendärere WM-Halbfinale 1970 gegen Italien, bei dem er eingewechselt wurde. Das Wembley-Spiel 1972, in dem er als Linksaußen agiert.

Die Bilder zeigen einen schnellen, dribbelstarken, beidfüßigen Angreifer, der viel läuft und arbeitet; einen altruistischen Vorbereiter; im Grunde einen hochmodernen Stürmer.

Sie hatten doch auch lange Haare damals, Herr Held. Rebellion gegen das Establishment?

„Nein, das hatte nichts mit Rebellion zu tun.“

Sondern?

„Es sah nicht schlecht aus und es war bequem.“

Dass er alle drei Tore eingeleitet hat in Wembley? An die Vorlage zu Hoeneß’ 1:0 erinnert er sich, auch daran, dass Bobby Moore vor dem Elfmeter mehrere Versuche brauchte, bis er ihn umgehauen hatte. Und dass Netzers Elfer „reingezittert“ war. Aber er weiß nicht mehr, wie er beim dritten Tor auf die rechte Seite kam, um Hughes den Ball abzunehmen und Hoeneß anzuspielen, der dann zur Mitte zog und Müller fand.

41 Länderspiele hat Held gemacht zwischen 1966 und 1973. Das klingt nach nicht viel, aber es sind vier mehr, als Netzer hatte. Wenn man ihn richtig versteht, konnte er die Bedeutung von Wembley damals nicht spüren, weil die EM noch kein richtiges Turnier war. Das 3:1 in London war das Viertelfinalhinspiel, dem kurz darauf ein 0:0 in Berlin folgte. Zwischendurch spielte er mit seinem damaligen Klub Kickers Offenbach. In der Regionalliga. Es ging um den Wiederaufstieg in die Bundesliga, der dann auch gelang. Allerdings musste man damals auch noch eine Aufstiegsrunde gewinnen. Und die wurde parallel zur EM-Endrunde ausgetragen. Held musste gegen Röchling Völklingen und Wacker 04 Berlin spielen, während das deutsche Team um Netzer mit einem 2:1 gegen Belgien und 3:0 gegen die UdSSR unsterblich wurde – auf Linksaußen der Schalker Erwin Kremers.

„Das war halt so. Da hat man mich auch nicht gefragt“, sagt er. „Man hätte sicher lieber bei der EM gespielt, aber die Notwendigkeit konnte man einsehen.“ Er klingt nicht bitter und ist es wohl auch nicht.

Hat Bundestrainer Helmut Schön in Wembley eine geniale Strategie ersonnen und dann der Mannschaft mitgeteilt?

„Könnte sein, aber dann war ich nicht dabei.“

Dass der Mythos heute nur mit Netzer verbunden wird?

„Ja gut, Overath war verletzt.“

Nie das Gefühl gehabt, der wahre Held dieses Spiels zu sein?

„Dazu habe ich keine Meinung. Es war ein schöner Erfolg auf dem Weg zum EM-Titel.“

Der große Schweiger

Held hat das Fußballspielen auf der Wiese neben dem fränkischen Barackenlager gelernt, in dem er aufwuchs. Seine Eltern waren Vertriebene. Er gilt seit Jahrzehnten als größter Schweiger des deutschen Fußballs. Ach, sagt er: „Das mit dem Wenigsprechen ist eine Mär. Ich weiß auch, wie das entstanden ist.“

Wie denn?

„Zu der Zeit wollten die Journalisten wissen, was bei uns in der Kabine abläuft. Da kam dann auch einer zu mir. Er sagte: Wie geht es Ihnen, Herr Held? Und da habe ich geantwortet: Wollen Sie mich aushorchen?“

Das ist seine beste Anekdote.

Kennen Sie eigentlich Karl Heinz Bohrer, der den Mythos Wembley begründet hat?

„Bohrer wie beim Zahnarzt?“

Nichts gegen Bohrer und Netzer, aber Held denkt, dass es eher die damals neuen Stadien waren, die die Intellektuellen und die gebildete Mittelschicht mit dem Fußball versöhnten. In denen wurde man nämlich nicht mehr nass geregnet.

Haben Sie eigentlich eine Erinnerung an Siegfried Held, Herr Bohrer? „Eine sehr dünne“, antwortet die Stimme aus dem Telefon. Er hat sich unlängst dann doch mal die Nationalmannschaft von Joachim Löw angeschaut. Und festgestellt: „Die ungeheure Spießigkeit der Vergangenheit, dieses Duckmäuserische und Schwerfällige, der Mangel an Spontanität, das ist vollkommen vorbei. Die spielen riskant, sympathisch und spielerisch gekonnt.“

Das ist der Punkt: Die Feuilletonisierung des Fußballs ist längst tot, Onkel Alois auch. Und unsere Nationalmannschaft ist ein Team, wir sind seine Fans, weil es seit 2006 modernen, erfolgreichen, schönen Fußball spielt. Das ist nichts Übernatürliches, das gilt jetzt als normal.

In Wembley sind noch fünf Minuten zu spielen. Es scheint auf ein 1:1 rauszulaufen. Da spielt Gerd Müller vom eigenen Strafraum aus in schneller Umschaltaktion den einzig vorn postierten Deutschen an. Dessen Gegenspieler Paul Madeley grätscht ins Leere. Und dann zieht Siegfried Held aus der eigenen Hälfte davon und hält nicht mehr an, bis ihm Bobby Moore in Englands Strafraum im zweiten Versuch die Beine wegzieht.

Es war nicht Netzer. Held kam aus der Tiefe des Raumes. Wichtig ist mir das nicht mehr. Es gibt ja jetzt Schweinsteiger, Özil, Neuer, Klose, Podolski, Lahm, Götze, Reus, Hummels.

Aber gut zu wissen.

Peter Unfried, 48, taz-Chefreporter, wurde nach einem verklärenden Netzer-Interview Ende 1994 in die Sportredaktion der taz berufen